Mit einem Lächeln erklärt Michael Ondaatje, dass er ein neues Wort in den englischen Sprachgebrauch eingebracht habe. „Cat's Table“ heißt der neue Roman des Kanadiers, der seit dem Erscheinen seines Romans „Der englische Patient“ zu den Stars des internationalen Literaturbetriebs zählt. Seine deutsche Lektorin Anna Leube hatte ihn auf den Titel „Katzentisch“ gebracht, nachdem sie ihm einen ihrer Träume erzählt hatte. So erzählt es Ondaatje, der wieder einmal dem Ruf von Klaus Bittner folgte und in Köln las, nachdem er schon 1990 seinen großartigen Roman „In der Haut eines Löwen“ in der Buchhandlung Bittner vorgestellt hatte.
Der Katzentisch beschreibt genau die Perspektive, aus der sein 11-jähriger Erzähler das Treiben auf dem Ozeanriesen beobachtet, der ihn zu Beginn der fünfziger Jahre von Ceylon nach England bringt. „Der Katzentisch ist am weitesten entfernt vom Tisch des Kapitäns“ erklärt Ondaatje und die Untersicht des vertrauensvoll, aber unbestechlich beobachtenden Kindes markiert zunächst den Standpunkt des Erzählers. Ohne Begleitung ist der 11-jährige Michael auf das Schiff verfrachtet worden, aber er lernt schon bald zwei gleichaltrige Jungs kennen, mit denen er Abenteuer auf diesem schwimmenden Zauberberg erlebt. Aus Thomas Manns Meisterwerk hat Ondaatje nicht nur die Speisekarten abgeschrieben, wie er schmunzelnd zugibt, der „Zauberberg“ inspirierte auch die Porträtreihe des Romans. Michael erkundet kranke Millionäre, schöne Kusinen, arme Teufel und ein Verbrechen. Viele Jahre später schaut er mit seinem Erwachsenen-Ich noch einmal auf den dreiwöchigen Trip nach Europa zurück und vermag plötzlich die Zeichen zu lesen, deren Bedeutung ihm einstmals verborgen blieb.
Der 11-Jährige versteht jedoch mit dem Herzen, so dass sich Ondaatjes Roman letztlich als ein weises Buch darstellt, das hinter die Selbsttäuschungen schaut, in die seine Protagonisten verstrickt sind. Ondaatje selbst präsentierte seine wunderbar lebendige, sinnlich aufgeladene Prosa dem zahlreichen Publikum im Kölnischen Kunstverein mit eher glanzloser Stimme. Dafür ließ Moderator Denis Scheck keine Gelegenheit aus, dem Kanadier Informationen über Biografie und literarischen Geschmack zu entlocken. Josef Tratnik lieferte in der Deutschen Übersetzung von Melanie Walz genau jene Lichtpunkte, die der Autor verschluckte. Mit seinen Sätzen zieht Ondaatje seine Leser jedoch unweigerlich in die dramatischen Geschehnisse an Bord. Freiwillig löst man sich nicht von dieser Prosa. Deren geheimnisvoller Sog offenbarte sich an diesem Abend im Blick auf die verschachtelten Satzkonstruktionen, mit denen Ondaatje in langen Bögen, die wie Schiffstaue die Wahrheit Stück um Stück an Land ziehen, das Interesse für die Schicksale seiner Figuren spannt. Eine Technik, die so gut funktioniert, dass Ondaatje gesteht, manchmal Autobiographie und Fiktion nicht mehr auseinanderhalten zu können und sagt: „Man geht dann plötzlich den eigenen Geschichten auf den Leim“. Ein Autorenproblem, das den Lesern freilich reine Glücksmomente beschert.
Michael Ondaatje: Katzentisch. Deutsch von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag, 302 S., 19,90 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Die Liebe und ihre Widersprüche
„Tagebuch einer Trennung“ von Lina Scheynius – Textwelten 11/25
Inmitten des Schweigens
„Aga“ von Agnieszka Lessmann – Literatur 11/25
Mut zum Nein
„Nein ist ein wichtiges Wort“ von Bharti Singh – Vorlesung 10/25
Kindheitserinnerungen
„Geheimnis“ von Monika Helfer und Linus Baumschlager – Vorlesung 10/25
Appell an die Menschlichkeit
Navid Kermanis Lesung im MAKK – Lesung 10/25
Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25
Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25
Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25
Keine Angst vor Gewittern
„Donnerfee und Blitzfee“ von Han Kang – Vorlesung 09/25
Roman eines Nachgeborenen
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić – Literatur 09/25
Süß und bitter ist das Erwachsenwerden
„Fliegender Wechsel“ von Barbara Trapido – Textwelten 09/25
Geteilte Sorgen
„Lupo, was bedrückt dich?“ von Catherine Rayner – Vorlesung 08/25
Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25
Erste Male zwischen den Welten
„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25
Düster und sinnlich
„Das hier ist nicht Miami“ von Fernanda Melchor – Textwelten 08/25
Die Kraft der Erinnerung
„Das Geschenk des Elefanten“ von Tanja Wenz – Vorlesung 07/25
Eine wahre Fluchtgeschichte
„Wie ein Foto unser Leben rettete“ von Maya C. Klinger & Isabel Kreitz – Vorlesung 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25