Nur noch weg. Die 18jährige Bronny will fort aus ihrer Heimat Australien und fort von ihrer Familie, in der es eine tückische Erbkrankheit gibt. Mit kaum mehr als den Kleidern auf dem Leib steigt sie in ein Flugzeug nach London. Das Geld reicht gerade für ein Hostel. Dort lernt sie einen jungen Mann kennen, der ihr einen Job besorgt, und mit ihrer Zimmergenossin – einem hübschen, männerversessenen Model – zieht Bronny bald in ein benachbartes Haus. Eigentlich ist es eine Hausbesetzung, denn das noch gut erhaltene Objekt steht leer, und so findet sich bald eine WG aus jungen Männern und Frauen zusammen, die gerne feiern, Dope rauchen und die Wochenenden mit Chips vor dem Fernseher verbringen.
Helen FitzGerald wählt eine unerwartete Exposition für ihren neuen Kriminalroman „Die dunkle Treppe“. Zumal sie Bronny aufmerksam bei ihren Bemühungen folgt, zum ersten Mal einen Mann ins Bett zu bekommen. Helen FitzGerald schildert uns Sex mit zwei Gesichtern, denn während oben lustvoll gekifft und geknutscht wird, glaubt Bronny immer wieder Geräusche aus dem Kellergeschoss zu hören. Dort spielt sich die dunkle Seite der Sexualität ab. Celia, eine junge Frau, Mutter zweier Kinder, ringt – nackt an einen Stuhl gefesselt – um ihr Leben. FitzGerald gelingt der schockartige Wechsel in die Unterwelt. Ein Mann hat Celia morgens beim Brötchenholen entführt und hält sie nun unerbittlich gefangen. Mit wenigen Sätzen zeichnet die Australierin ein markantes Profil von Celia, ihrem Kampf und ihren körperlichen Leiden. Plötzlich wird die Story ganz schnell. Das Sujet ist nicht neu, aber es funktioniert unter den Händen dieser routinierten Autorin, weil sie die Einsamkeit der Gefangenen vorstellbar macht. Auch wenn FitzGerald im Finale die Spannungsschraube überdreht, so gelingt es ihr doch, die Atmosphäre der eigentlich so freundlichen Londoner Vorstadtwelt effektvoll für ihre Story zu nutzen. Das Spiel zwischen Grauen und sinnlichem Realismus erzeugt eigene Regeln. Wer sich einmal von diesem Roman hat ködern lassen, muss immer wieder zur „dunklen Treppe“ zurück, um zu erfahren, welche Wendung die Schicksale der beiden Frauen nehmen.
Helen FitzGerald: Die dunkle Treppe | Deutsch von Steffen Jacobs | Galiani Berlin | 240 S., 16,99 Euro
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Die Kraft der Erinnerung
„Das Geschenk des Elefanten“ von Tanja Wenz – Vorlesung 07/25
Eine wahre Fluchtgeschichte
„Wie ein Foto unser Leben rettete“ von Maya C. Klinger & Isabel Kreitz – Vorlesung 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25