Das Leben hinterlässt seine Spuren?! Wie niedlich: Hier ein Grübchen, da ein paar Fältchen? Johan Willners fotografische Szenen sprechen eine andere Sprache; speziell die Peopleaufnahmen. Stills, inszenierte Momente, stumm und anklagend, Ausschnitte aus dem Leben, in denen es nicht nur um ein paar lächerliche Schrammen geht. Leer, angefressen, ausgehöhlt, innerlich vernarbt erscheinen die Blicke der Protagonisten und lassen ihre Augäpfel zu Spiegeln unserer eigenen Seele werden. Selbst der Titel des Fotobildbands „Boy Stories“ (HatjeCantz) gibt sich nur vermeintlich harmlos, versteckt sich doch auch unter seiner Oberfläche eine viel abgründigere, prägende Wahrheit, die Stoff für ganze Romane, Dramen oder Horrorstorys birgt.
Was für ein Horror, wenn man sich zum Beispiel völlig zu Unrecht wegen Mordes angeklagt im Gefängnistrakt der zum Tode Verurteilten wiederfindet. In das Gesicht des Taxifahrers Jeff Sutton möchte man gar nicht blicken, zumal außer seinem gefühlstoten Zellennachbarn niemand an seine Unschuld glauben will. Wenn dann noch die Ermittlung Beweise manipuliert, zieht sich die Schlinge erbarmungslos zu: „Hoffnung ist Gift“ (Deuticke); und was den Kloß im Hals des Lesers noch dicker werden lässt: Ian Levisons Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. / Insofern könnte man bei Bodo Kirchhoffs Roadstory „Die kleine Garbo“ (dtv) beinahe aufatmen. Doch bereits das pulpartige Intro entwickelt einen unglückseligen Sog. Hier „Der Mann, der nur sich selbst erschießen wollte“, sich aber spontan für einen Bankraub entscheidet, in dessen Folge er aus Versehen zwei Menschen umlegt. Dort der zwölfjährige TV-Star, dem die Welt scheinbar naturbedingt zu Füßen liegt. Zwei Gegenpole, deren schicksalhafte Verstrickung die Zweifelhaftigkeit des Glücks erahnen lässt.
Was heißt auch schon Glück? Ist es „Das Geschenk“ (dtv), das Wolf Wondratscheks einstiger Haudrauf Chuck einunddreißig Jahre nach seinen selbstverliebten Prosagedichten („Chucks Zimmer“) erfährt? Von wegen: „Chuck, der sein Kind liebt, das nie zur Welt kommen wird“. Nun sitzt das ergraute Narbenherz seinem 14jährigen Sohn gegenüber und muss erkennen „Ein Kind macht sich auf, sein Leben zu beginnen, während der Vater, lächerlich wie ein Vater, verwundbar wie ein Vater, sich damit abzufinden hat, sein Leben als Anfänger zu beenden!“ Zeit zur schonungslosen Selbstdemontage; anhand der verwegenen Zeugungsgeschichte seines Nachfahrens. / Die Reflexion des Anfangs vom Ende. Auch in Claire Vaye Watkins' Titelstory „Geister, Cowboys“ (Ullstein) steht diese Rekonstruktion am Anfang: „Am Ende kann ich nicht aufhören, über Anfänge nachzudenken.“ Und so beginnt das Leben der Erzählerin doch nicht mit dem Moment, an dem Razor Blade Baby einzog, oder als ihre Eltern mit Charles Manson auf eine Ranch zogen, oder als der Architekt Himmel Green Reno seinen Stempel aufdrückte, oder, oder, oder, sondern als Charles Fuller eine Holzbrücke über den Truckee baute – und damit den Goldschürfern und Minenarbeitern, Glückssuchern und anderen Sonderlingen den Weg in Watkins' psychedelisch-pulsierende Storys vom Leben und den Narben, die es hinterlässt, zu bereiten.
Und das Ende vom Leid: der keinerlei Glückseligkeit versprechende, dafür aber beruhigend nüchtern abschließende Blues „The Way Home“ (HatjeCantz), wie er sich in Tom Hunters Fotografien manifestiert. Ob leere Gebetsräume oder triste Wohnzimmer samt ihrer Bewohner, verwaiste Parkanlagen, spooky Puppentheater oder ewig Reisende in ihren Heimen, und selbst die als Story aufgefangenen Momente, nicht nur die vom Ende des Lebens und dem Anfang der Hölle, auch jene vermeintlich medias in res festgehaltenen, sie alle zelebrieren das Ultimative. Ob unglücklich oder glücklich, leer oder lächelnd, geschlagen oder stur: Die Protagonisten, die Szenen, die Räume in den Fotografien des Briten strahlen – trotz oder gerade wegen der schicksalhaften Narben und Wunden – eine eigentümliche Ruhe aus, die Ruhe des finalen Moments.
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