„Über die Vorstellung, dass es ein höheres Wesen gebe, welches allmächtig und allwissend über den Lauf der weltlichen Dinge wacht und über diese richtet, sollte man vernünftigerweise nicht streiten“, sagte Herr Keiner. „Denn in der Form des Glaubens macht sich das menschliche Denken immun gegen Kritik: Wie soll man mit Gläubigen über etwas streiten, von dem sie selbst sagen, dass es mit dem Verstand nicht zu erklären ist, dass man an das höhere Wesen glauben, also es sich einbilden muss.
Wohl aber streiten kann man über den irdischen Gehalt des Glaubens, denn mit der Vorstellung, dass es einen Gott gibt oder geben muss, versuchen die Menschen, sich einem Reim auf ihr irdisches Jammertal zu machen.
So hat der menschliche Entwurf eines Gottesbildes als seinen Gegenpol ein klar umrissenes Menschenbild. Wird Gott als etwas unfassbar Großes, Ewiges, Allwissendes u.a. vorgestellt, wird damit zugleich eine Aussage über das Wesen der Menschennatur gemacht. Der Mensch ist danach ein vergleichsweise kleines, endliches und unwissendes Geschöpf des vorgestellten Gottes.
Dieses aus dem Vergleich mit dem Gottesbild entworfene Menschenbild“, sagte Herr Keiner, „hat einen sehr unvernünftigen Gehalt. Denn es wird als das Wesen der Menschennatur behauptet, dass sich der Mensch in seinem Denken und Handeln nach etwas über ihm zu richten hat, dass er sich an Ge- und Verboten auszurichten hat, die, ihrer Herkunft wegen, als un-hinterfragbar zu gelten haben.
Die moralische Botschaft des menschlichen Einfalls, sich mit der Vorstellung eines unfehlbaren höheren Wesens die Geschehnisse des Erdenlebens zu deuten“, fuhr Herr K. fort, „ist nicht zu übersehen: Der Mensch hat demütig und bescheiden zu sein und sich aller Eitelkeiten der Vernunft zu entsagen.
Dieses klare Votum für eine untertänige Gesinnung haben die Herrschenden zu allen Zeiten gut verstanden und zu nutzen gesucht. Heutzutage segnen die großen religösen Vereinigungen so ziemlich alles ab, was der jeweiligen Landesherrschaft lieb ist. Und weil das religiöse Denken als eine Form des moralischen Denkens ein Werk des berechnenden menschlichen Verstandes ist, erweisen sich die göttlichen Gebote in der irdischen Anwendung als ziemlich flexibel: Das Gebot der Nächstenliebe kann sich mit allen Formen der Ausbeutung der Menschen anfreunden, und gegen das Gebot ‚Du sollst nicht töten!’ wird ebenfalls nicht verstoßen, wenn angestellte Gottesdiener auf allen Schlachtfeldern dieser Welt die Waffen segnen, die für das Töten von Menschen zum Einsatz kommen.
Nur mit einem kann sich das religiöse Denken niemals abfinden“, sagte Herr Keiner: „mit Verhältnissen, in denen die menschliche Vernunft regiert und eine untertänige Gesinnung keinen Platz mehr hat. Das Streben nach einer vernünftigen, klassenlosen Gesellschaft ist als entschieden ‚gottlos’ zu verwerfen. In diesem Punkt ist mit der Religion nicht zu spaßen.“
Doch das könne er gut verstehen, sagte Herr K. nachsichtig. „Denn wie kann das religiöse Denken für Verhältnisse sein, in denen dem Glauben an ein höheres Wesen sein irdischer Nährboden abhanden kommt?!“
„Lesung“ aus dem Buch: Herrschaftszeiten. Geschichten von Herrn Keiner | Von Ulrich Schulte | www.herrkeiner.com
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