Die Verwandlung von Antony Hegarty, dem Sänger von Antony and the Johnsons, zu Anohni, der Solokünstlerin, impliziert zum einen den Wandel zur Frau, zum anderen den musikalischen Wandel vom kammermusikalischen Kunst-Pop zum Elektronik-Act. Die Warp-Produzenten Hudson Mohawke und Oneohtrix Point Never haben ihr für das fatalistische Solo-Debüt „Hopelessness“ futuristische Beats gebastelt, über die sie mit ihrer beinahe überirdischen Stimme von den Abgründen der Menschheit singt. Erschreckend, faszinierend und berührend (Rough Trade). Michael Gira beendet mit dem neuen Swans-Album „The glowing Man“ die aktuelle Inkarnation seiner Band. Das Dreifachalbum entfaltet auf ausgedehnten, teilweise halbstündigen Stücken hypnotische, rituell anmutende Drones. Giras lang gezogener Gesang klingt immer noch wavig, erinnert an die Virgin Prunes u.ä., während sich die wogenden Soundwände dem Pathos von Mogwai nähern. Eine ziemliche Packung – aber es wirkt. Mal sehen, was nun kommt (Mute). Eigentlich ist Fire! das energetische Jazz-Trio von Mats Gustafsson, Johan Berthling und Andreas Werliin. Für das Seitenprojekt Fire! Orchestra vergrößern sie sich zum ca. 20-köpfigen Kollektiv, das in die Fußstapfen progressiver 70er-Jahre Jazz-Orchester à la Keith Tippet, Carla Bley oder Charlie Haden tritt. Ihr zweites Album „Ritual“ wechselt zwischen sehr rhythmischen Passagen mit charismatischem Gesang der beiden weiblichen Vokalistinnen und freieren Stücken (Rune Grammofon).
„The Mystery Behind the Cosmic Sound of Cap Verde Finally Revealed“, verkündet das Cover der Compilation „Space Echo“. Die im Booklet aufgezeichnete Geschichte, wie die wunderbare Musik der Kap Verden elektrifiziert wurde, ist sehr unterhaltsam und lässt zwischen maritimen Unwettern und interstellaren Stürmen nur wenig aus. Wie auch immer es zu all dem Ende der 70er-Jahre kam – das anhand von 15 Stücken repräsentierte Ergebnis ist eine große Entdeckung. Die Energie von Afro Beat verbindet sich mit den weichen Melodien der Kap Verden zu fantastischen Tanzstücken (Analog Africa). In Ghana hat die Kologo, die zweisaitige Langhalslaute, seit einigen Jahren Konjunktur. Die Compilation „This is Kologo Power!“ hat Arnold de Boer, der Sänger der holländischen Punk-Legende The Ex, kompiliert. Dass de Boer weniger die elektronisch unterlegte Variante mit Autotune-Einsatz protegiert, ist klar. Hier gibt es daher zehn Stücke von King Ayisoba, Prince Buju, Ayuune Sule und anderen, die mit ihrer rohen, spartanischen Energie faszinieren, aber auch an guten Melodien nicht sparen – toll (Makkum Records).
Wolfgang Seidl widerspricht in seinem Buch „Wir müssen hier raus!“ über „Krautrock, Free Beat, Reeducation“ – so der Untertitel – der gängigen Lesart von Krautrock als selbstbewusste Rehabilitierung des Deutschtums gegen die Kultur der angloamerikanischen Alliierten. Wie schon Frank Apunkt Schneider in „Deutschpop halt’s Maul!“ wird hier die These vertreten, dass sich der sogenannte Krautrock vor allem gegen die deutsche Muffigkeit richtete, und alle nationalen Zuschreibungen inklusive des Genrebegriffs Krautrock von außen kamen. Seidel arbeitet in seinem fundierten historischen Überblick, der nicht zuletzt von der eigenen Erfahrung des heute 67-jährigen als Musiker mit Ton Steine Scherben, Alfred Harth oder Conrad Schnitzler gespeist wird, die antibürgerlichen Bestrebungen von Krautrock, Free Jazz und improvisierter Musik heraus (Ventil Verlag).
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Live und After-Life
Überirdische Reunionen und Rituale – Kompakt Disk 12/19
Zarte Geister und suizidaler Horror
Seelenzustände in Musikform – Kompakt Disk 10/18
Sentimentale Jugend
Ambiente Klangwelten, kantiger Pop und ergreifende Vielgestaltigkeit – Kompakt Disk 04/18
International Krautronics
Rückblick auf Science Fiction-Sounds der 70er Jahre – Kompakt Disk 03/18
Irgendwie alles psychedelisch
Bewusstseinserweiternder R‘n‘B, Hip-Hop, Afrobeat und Indie-Pop – Kompakt Disk 12/17
Vergangene Zukunft der Popmusik
Somnambule und sedierte Klanglandschaften – Kompakt Disk 11/17
Zwischen den Traditionen
Transkontinentale Musik mit Zeitsprüngen – Kompakt Disk 10/17
Vierte-Welt-Musik
Fantasien zwischen Kopiergerät, Werbung und der weiten Welt – Kompakt Disk 09/17
Quer durch den Klangdschungel
Auf Entdeckungsreise mit Avey Tare, F.S.K., Boris und anderen – Kompakt Disk 08/17
Musikalischer Pointillismus
Rhythmische Finesse vom Mittelalter bis in die Gegenwart – Kompakt Disk 07/17
Weltfusion
Musikalischer Kulturaustausch – Kompakt Disk 06/17
Rückbesinnung
Geschichtsbewusstsein und Erinnerungsarbeit – Kompakt Disk 05/17
„Der Jazz wird politischer und diverser“
Jurymitglied Sophie Emilie Beha über den Deutschen Jazzpreis 2024 – Interview 04/24
Überbordende Energie
Dead Poet Society live im Luxor – Musik 04/24
In alter Blüte
Internationales Line-up beim Kunst!Rasen Bonn 2024 – Festival 04/24
Kleinteilige Tonalität
Das Festival „Acht Brücken“ erforscht die Zwischentöne – Festival 04/24
Einfach mal anders
Das stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen geht eigene Wege – Festival 04/24
Geschichtsträchtige Konzerte
Wandelbare Ikonen und perfekte Coverbands – Unterhaltungsmusik 04/24
Von Polen bis zu den Kapverden
Over the Border-Festival in Bonn – Musik 03/24
Von Zähnen und Schwänen
Schwergewichtige Sounds und debiler Humor – Unterhaltungsmusik 03/24
Bratschen im Fokus
„Violas Go Wild“ in der Kölner Philharmonie – Musik 02/24
Musik mit und ohne Verkleidung
Trotz Karneval ist Platz für Konzerte in Köln – Unterhaltungsmusik 02/24
Wann durchstarten, wann aufhören?
Der Konzert-Januar läuft sich nur langsam warm – Unterhaltungsmusik 01/24
Kalte Klänge für kühle Zeiten
Kölner Subkultur und deutsche Popmusik – Unterhaltungsmusik 12/23
Spiel mit der Melancholie
Andreas Staier im MAKK – Musik 11/23