Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
22 23 24 25 26 27 28
29 30 1 2 3 4 5

12.562 Beiträge zu
3.787 Filmen im Forum

Yves Ravey
Foto: Mathieu Zazzo

Roman zur Zeit

29. August 2023

„Taormina“ von Yves Ravey – Textwelten 09/23

Es sind nicht die Autobahnkilometer, die einem nach einer Urlaubsreise im Gedächtnis bleiben, sondern der Moment, in dem man vom Weg abgekommen ist. Ferien sind auch dazu da, die Freiheit zu spüren und einmal nicht das Erwartbare zu tun. Das Flugzeug ist gelandet, der Mietwagen übernommen, jetzt gilt es für das Ehepaar Melvil und Luisa nur noch ein paar Kilometer zurückzulegen, bis sie in ihrem Hotel in Taormina angekommen sind. Da lockt jedoch ein Straßenschild mit Sonnenschirm. Luisa bekommet sofort Lust, ein Bad im Meer zu nehmen. Melvil hält kurz an einem Imbiss, Luisa steigt an einem wilden Strand in die Brandung. Als die beiden auf einem Feldweg wieder zurück zur Autobahn wollen, rammt das Auto einen Widerstand, den beide in der Dunkelheit übersehen haben.

Statt auszusteigen, fährt man – den Schreck noch in den Gliedern – schnell weiter. Eine Vermeidungsreaktion, die das Ferienglück sabotieren wird. Yves Ravey hatte schon mit seinem Roman „Die Abfindung“ einen literarischen Film Noir geschrieben, in dem ein Tankstellenpächter in ein Geflecht von privaten und geschäftlichen Abhängigkeiten gerät. Hier stellen die beiden Urlauber den Psychothriller schon selbst her, indem sie den Tatsachen beständig aus dem Weg gehen. Am nächsten Tag wird in der Zeitung der Tod eines Kindes vermeldet, das offenbar in der betreffenden Gegend angefahren wurde. Man versucht, das Auto reparieren zu lassen, aber nun wird man auch in der Werkstatt misstrauisch.

Haben die beiden tatsächlich das Kind getötet? Niemand weiß es, aber die Zweifel nagen an Melvil und Luisa. An Sex oder gar Liebe ist zwischen den beiden nicht mehr zu denken. Das unablässige Gedankenkarussell zersetzt die Ferienstimmung. Ravey schreibt so etwas wie den Roman zur Zeit. Das ausweichende Reagieren auf Symptome beschert wachsende Probleme. Geschrieben ist diese Geschichte wie ein knackiges B-Movie, in dem nicht etwa die Logik der Story besticht, sondern man in den atmosphärischen Strudel der Ereignisse gezogen wird. Es ist irre spannend zu sehen, wie zwei saturierte Urlauber auf bestem Wege dabei sind, zu Flüchtlingen zu werden.

Yves Ravey: Taormina. | a. d. Franz. v. Holger Fock und Susanne Müller | Verlagsbuchhandlung Liebeskind | 112 Seiten | 20 Euro

Thomas Linden

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Challengers – Rivalen

Lesen Sie dazu auch:

Kindheit zwischen Buchseiten
„Die kleinen Bücher der kleinen Brontës“ von Sara O’Leary und Briony May Smith – Vorlesung 05/24

Sprachen der Liebe
„So sagt man: Ich liebe dich“ von Marilyn Singer und Alette Straathof – Vorlesung 02/24

Glühender Zorn
„Die leeren Schränke“ von Annie Ernaux – Textwelten 12/23

Reichtum und Vielfalt
„Stärker als Wut“ von Stefanie Lohaus – Klartext 12/23

Die Umweltschutzuhr tickt
„Der Wald ohne Bäume“ von Jeanne Lohff – Vorlesung 12/23

Nahrhafte Lektüre
„Das Alphabet bis S“ von Navid Kermani – Textwelten 11/23

Ein Zirkus für alle
„Adam und seine Tuba“ von Žiga X Gombač – Vorlesung 08/23

Frauen, die die Welt veränderten
„Little Leaders – Mutige Frauen der Schwarzen Geschichte“ von Vashti Harrison – Vorlesung 08/23

Berufe von A bis Z
„Ich werde mal“ von Alla Hutnichenko – Vorlesung 06/23

Gemeinsame Schritte
„Du“ von Andrea Langenbacher – Vorlesung 05/23

Nordische Sagen für Kinder
Matt Ralphs’ aktuelles Sachbuch „Nordische Mythen“ – Vorlesung 03/23

Surren, Summen, Brummen
„Der große Schwarm“ von Kirsten Traynor – Vorlesung 03/23

Literatur.

Hier erscheint die Aufforderung!