Als Natalia Ginzburg 1946 in Rom eine Arbeit sucht, fällt einer Freundin auf, dass sie ganz schlechte, alte Schuhe trägt. Ihre Kinder hatte die italienische Schriftstellerin auf dem Lande in Betreuung gegeben, ihr Mann war von den deutschen Besatzern im Gefängnis ermordet worden. Die Schuhe waren das Letzte, an das sie einen Gedanken verschwendete. Aber sie erinnerte sich, als Professorentochter in Turin immer die besten Schuhe getragen zu haben. Wer als Kind in guten Schuhen durch die Welt gegangen ist, dem sind die Schuhe später nicht mehr wichtig, schloss sie daraus. Die Erfahrungen der Kindheit schreiben sich in unsere Erinnerung besonders tief ein. Die Literatur schöpft aus dem, was wir er-innern, es ist das, womit wir nie so ganz fertig werden und das wir deshalb nicht vergessen können. Segen und Fluch einer jeden Lebensgeschichte mag das sein. Der Literatur hat diese Tatsache ungezählte Schätze beschert.
Natalia Ginzburgs „Familienlexikon“ ist so ein unvergessliches Kompendium der Kindheit. Oder Vladimir Nabokovs „Sprich, Erinnerung, sprich“, das von seinem Leben als Sohn einer märchenhaft reichen Adelsfamilie erzählt. Alles hatte Nabokov mit der Revolution in Russland verloren, und doch hat er diesem Vermögen keine Sekunde nachgeweint, denn in dieser Kindheit wurde auch seine Faszination für die Schmetterlinge, die Sprache und die Literatur entzündet, ein Feuer, das nie mehr in ihm erlosch.
Es gibt aber auch die nachtschwarzen Kindheiten. Jean-Jacques Sempé, dessen Zeichnungen zum Synonym für Glück und Lebensfreude wurden, durchlitt ein Martyrium gleich zu Beginn seines Daseins. Dem Journalisten Marc Lecarpentier erzählt er in seiner Autobiographie, dass ihm manchmal, wenn er sah, dass die Mutter eines Freundes ihrem Jungen einen Kuss gab, selbst die Tränen kam, weil es bei Sempé zu Hause nur Ohrfeigen gab. Er erinnert sich, dass seine Mutter so feste zuschlug, „dass mein Kopf gegen die Wand knallte, und das ergab dann zwei Ohrfeigen“. Heute lacht er über solche Szenen, aber vergessen hat er sie nicht. So enthält der wunderbar elegant gestaltete Band, der jetzt unter dem Titel „Kindheiten“ bei Diogenes erschienen ist, auf der einen Seite Sempés Berichte über eine gnadenlose Mutter und die infernalische Streiterei, die seine Eltern zum Gespött der Nachbarschaft machten. Auf der gegenüberliegenden Seite prangen hingegen seine durchsonnten Zeichnungen. Die sieht man nun mit ihrem spitzbübischen Witz und ihrer Weltlust mit anderem Blick. Denn sie sind offenbar Teil eines Überlebensprogramms, mit dem sich der 80jährige Franzose vor dem Abgleiten in die Schwermut zu retten verstand. Gerade der Blick auf die Kinder – oder sollte man besser sagen, auf das Kind, das er selbst einmal war – inspiriert ihn zu präzisen Beobachtungen und äußerst raffiniert entwickeltem Humor. Toll sind diese Blätter und frei von jeder Gefahr, in die dekorative Idylle abzugleiten. Im Gegenteil, Idyllen erhalten von Sempé die nötige Würze.
Sind Kindheiten für Erwachsene nur Projektionsflächen ihrer Sehnsüchte? Paulus Hochgatterer, deutschsprachiger Krimiautor und im Hauptberuf Kinderpsychiater, kennt die Realität des Kindseins. Er weiß, dass Kinder auch geschützt werden müssen, nicht zuletzt vor den romantischen oder leistungsgeilen Vorstellungen der Erwachsenen. In seiner klugen,eigenwillig ironischen Sprache präsentiert er in „Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe“ eine Sammlung von Essays über das Frech- und das Bravsein der Kinder, über die Erotik, die in Kinderbuchklassikern versteckt ist, und vor allem über den Blick auf diese Welt aus der Perspektive der Kinder. Ein Blick, den wir selbst nie so ganz verlieren. Deshalb besteht noch Hoffnung, das Kind, das wir einmal waren, neu kennenzulernen.
Natalia Ginzburg. Familienlexikon. Deutsch von Alice Vollenweider. Wagenbach. 10,90 €
Vladimir Nabokov: Erinnerung, sprich. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Rowohlt. 10 €
Sempé: Kindheiten. Deutsch von Patrick Süßkind. Diogenes Verlag. 39,90 €
Paulus Hochgatterer: Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Deuticke. 18,90 €
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