Wenige Autoren der Gegenwart sind so beliebt und gleichermaßen verhasst wie Michel Houellebecq. Reaktionär seien seine Texte, obszön, rassistisch, islamophob und frauenfeindlich, monieren die einen. Von hellsichtiger Brillanz, zermürbender Sensibilität und visionärem Scharfsinn, jubilieren die anderen. Er, der schwer Einzuordnende, der mit seinem kontroversen Image Kokettierende, hat nun mit „Vernichten“ überraschend sein Opus Magnum vorgelegt.
Im Zentrum des Romans steht ein Mittvierziger: Paul Raison arbeitet in einer Spitzenposition im Wirtschaftsministerium. Er ist der Vertraute von Bruno Juge, einem Anwärter auf die Präsidentschaft bei der Wahl 2027. Als im Netz ein verstörendes Video über jenen auftaucht, wird Paul mit Nachforschungen beauftragt. Während sich darauffolgend mysteriöse Anschläge über das Land ziehen, hadert Paul mit seiner Ehe. Er und seine Frau Prudence teilen sich zwar noch die Wohnung, liefern sich in ihrer Ehe allerdings einen Guerillakrieg. Vor dem Panorama der Verfallserscheinungen des Westens vollzieht sich auch die zaghafte Wiederannäherung dieses Paares. So drängt sich nach seinen vorigen Romanen die Frage auf: Ist wahre Liebe im Spätkapitalismus doch möglich?
Hintergründig wabert in „Vernichten“ das diffuse Bedrohungsgefühl, das rechtsnationalistische Bewegungen durch die Wiederbelebung stereotyper Feindbilder auf perfide Weise für sich auszunutzen wissen. Zeitgleich werden hier Bilder einer vermeintlich braven oberen Mittelschicht beschworen sowie die Rückbesinnung auf familiäre (konservative) Werte, die Natur und sogenannte einfache Dinge des Lebens. Houellebecq führt Privates und Politisches mit leichter Hand zusammen. Seinen Verächtern wie auch seinen Liebhabern gibt er zudem allerlei für ihn charakteristisches Material zur Hand: ein Frauenbild zum Haarsträuben, abgeklärten Kulturpessimismus sowie überraschend treffsichere Gegenwartsdiagnosen im rhetorischen Gewand indifferenter Geschwätzigkeit. Bei seinem Desillusionierungsfeldzug gegen eigentlich alles und jeden übertrifft er sich selbst. Hinter dem betont losen Romanaufbau verbirgt sich die raffinierte Konstruktion eines literarischen Meisters der Ambivalenz, dessen wirkmächtige Bücher sich in Endlosschleifen sowohl problematisieren als auch rechtfertigen lassen.
Michel Houellebecq: Vernichten | Dumont Verlag | 624 S. | 28€
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