Kopfschmerztabletten, einen Duden, Papier und eine mechanische Schreibmaschine, viel mehr braucht man nicht, um den Nobelpreis für Literatur zu gewinnen. Man kann das Arbeitszimmer von Heinrich Böll jetzt in Augenschein nehmen, es ist eines von 18, die er in seinem Leben benutzte. Die Wechsel waren notwendig, „weil sich ein Arbeitszimmer nach einiger Zeit verbraucht“, wie Böll meinte. Zu sehen ist es in der Zentralbibliothek (ZB) hinter dem Kölner Neumarkt. Gläsern wie das Versuchsbiotop einer Fliege wird es präsentiert. Jedes Manuskript wurde von Böll eigenhändig getippt, geschnitten und geklebt, selbst eine elektrische Schreibmaschine lehnte er ab.
Das Arbeitszimmer in der Bibliothek aufzubauen, ist nur ein Projekt unter anderen, wie der Eröffnung des Böll-Archivs, des Archivs für Literatur in Köln, der Germania-Judaica oder der Präsentation der Fotografien von Brigitte Friedrich und Henry Maitek. Aber es ist ein bezeichnender Ansatz, weil es einen neuen Umgang mit der Lesekultur darstellt. Gestern noch galten Bibliotheken als out. Es lässt sich doch alles übers Internet besorgen, was braucht man da noch verstaubte Büchersilos? Dass sich die Zeiten geändert haben, stellte Hannelore Vogt, die neue Leiterin der ZB, fest, als ihr im Hause immer öfter Studenten und Schüler – also jene Klientel, die man eigentlich einsam vor dem PC vermutet – über den Weg liefen. „Sie kommen in Gruppen, verabreden sich hier, verbringen ganze Nachmittage im Haus. Es sind Jungen und Mädchen unterschiedlicher Nationalitäten, die hier recherchieren, ihren Snack essen – wir drücken dann ein Auge zu – und die Bibliothek als Arbeitsraum nutzen“. Nein, es handelt sich nicht um Aliens, sondern um Schüler, die hier jene Ruhe finden, „die sie zu Hause und in der Schulen offenbar nicht haben“, erklärte die Chefin der ZB. Der Ort ist ihnen angenehm und wichtig, denn das Lesen ist nicht nur eine Tätigkeit der einsamen, verinnerlichten Charaktere. Wer liest, möchte sich mit anderen austauschen, will anderes lesen, das einen auf neue Fährten des Denkens und Fühlens bringt. In der ZB hat man das begriffen und ist – was heute selten genug geschieht – mit dem Engagement für die Buchkultur in die Offensive gegangen. Eine elegante Lounge wurde eingerichtet, die Jüngeren können vor einem Weltbild der NASA ihre erdumspannenden Recherchen durchführen. Aber auch das Schmökern von Belletristik verlangen nach einem realen Ort – tausend Jahre abendländische Lesekultur in Bibliotheken lassen sich nicht durch ein paar Klicks am PC ersetzen. Lesen und Schreiben sind körperliche Tätigkeiten, die als solche eine eigene Form der Inspiration entwickeln. Auch der asketisch schuftende Nobelpreisträger wusste das, wenn ihn wieder das Bedürfnis nach einem neuen Arbeitsraum überkam. Die öffentlichen Bibliotheken, deren Mittel von der Politik nach Herzenslust gekürzt wurden, sind nicht am Ende. Im Gegenteil, sie müssen sich mit ihrer Kombination aus Buchkultur und elektronischer Dienstleistung zum Kämpfer für das Lesen machen. Denn einen Roman liest niemand am PC.
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