Ein Mann erschießt knapp 60 feiernde Konzertbesucher und verletzt rund 500 weitere zum Teil lebensgefährlich. „Was für ein kranker, kranker Mensch!“ Von Ost bis West, der Rechtspopulismus ist in Europa wieder hoffähig. „Was für eine kranke, kranke Gesellschaft!“ Ein Vater erschlägt seine Frau und erstickt anschließend ihre gemeinsamen Kinder. „Was für eine kranke, kranke Person!“ Ein Mädchen verschwindet aus ‚gesicherten Verhältnissen’ und zieht in den Dschihad. „Was für ein krankes, krankes Geschöpf!“ Und diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Krank, krank, krank!!! Ganz schön krank, es sich so einfach zu machen. Und da schimpft unsereins immer über die Berge an Kriminalliteratur, die den Eingangsbereich jeder größeren Buchhandlung verstopfen. Dabei findet selbst in den trivialsten Varianten eine differenziertere Analyse (oder zumindest Darstellung) des ‚Täters‘ statt als in Politik und Gesellschaft.
Corrie Jacksons „Fashion Victim“ [Piper] gehört mit ihren Erfolgsingredienzien ganz sicher zu diesen Top-Seller-(Serien)-Kandidaten: Eine junge Journalistin in ihrer persönlichen Vorhölle (Tod ihres Bruders, drohender Jobverlust, Alk, Affären), Mode und Models als attraktive, aber fadenscheinige Glitzerwelt (von der Autorin durch ihren Background als Ex-Glamour-Chefredakteurin durch Detailwissen aufgepeppt). Ermittlung und Täterprofil sind dabei professionell mit Thrillertouch angelegt, doch das interessanteste Krankheitsbild steckt in der leidgeplagten Heldin und ihrer Egofixiertheit.
Mit ihrer obdachlosen „Lady Bag“ [ariadne] hat auch Liza Cody eine neue Serienfigur ins Rennen geschickt, deren tragische Vergangenheit jedoch deliriös im Hintergrund wabert, statt exaltiert nach Sympathiepunkten zu heischen. Entscheidend ist die Perspektive, aus der sich die geschredderte Spürnase in den Infight mit der kranken Welt stürzt. So auch im Nachfolger „Krokodile und edle Ziele“ [ebda], wo im Angesicht sozialer Verwahrlosung vor dem schnieken Panorama bornierter Bürgerlichkeit Großherzigkeit im Grunde nur noch zu Wut mutieren kann.
(Auch) James Lee Burkes Kultromane um Cop Dave Robicheaux spielen mit einem bisweilen erschütternden Kontrast: hier die traumhafte Natur der (durch die Erderwärmung dem Untergang geweihten) Bayous, dort die zutiefst abgründige Psyche des (seinen vorzeitigen Untergang herbeiführenden) Menschen. Doch: Selbst bei den abgefeimtesten
Gestalten des Organisierten Verbrechens wie in der überarbeiteten Neuausgabe von „Flamingo“ [Pendragon] stehen stets die Schwächen, Ängste, Tragödien im Fokus, die die Täter zu Tätern (und die Opfer zu Opfern) machen.
Wie schwierig die Klassifizierung Täter/Opfer bisweilen ist, zeigt Dave Zeltersermans „Small Crimes“ [pulp master]. Als Cop hatte Joe Denton der Schattenwelt eines korrumpierten Polizeiapparats den kleinen Finger gereicht … Nach sieben Jahren Haft ist seine private Welt ein Scherbenhaufen und die Pistole an seiner Schläfe immer noch da. Was ist jetzt noch hehrer Wunsch, was Tugend? Was krank?! Ethik, Moral, Recht erweisen sich auch hier nur als willkürlicher Versuch, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, auf dem sich gesellschaftliche wie individuelle Dispositionen nivellieren lassen – und damit unwillkürlich zu scheitern. R.I.P.
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