Russen lesen gerne, vor allem auf Deutsche Literatur richtete sich stets ein großes Interesse. Immerhin sprechen in Russland mehr Menschen Deutsch als im Rest der Welt, abgesehen von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Aber wer weiß, ob sich in Zukunft überhaupt noch ein Kinder- oder Jugendbuch in Putins Reich verkaufen lässt. Denn jetzt ist ein Gesetz in Kraft getreten, das „Jim Knopf“ oder den „Räuber Hotzenplotz“ zu einem Fall für die Polizei macht. Was auf den ersten Blick nicht unvernünftig wirkt, ein Gesetz zum „Schutz der Kinder vor Informationen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden“ zu formulieren, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als übler Versuch, die Zensur zu installieren.
So berichtet Christiane Raabe, die Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek in München, von den Konsequenzen, die die neue Regelung fordert. Sie verpflichtet „Verlage, Kinder- und Jugendbibliotheken und Buchhandlungen ab sofort, Bücher mit „18+“ zu kennzeichnen, in denen Gewalt geschildert, Drogen, Tabak und Alkohol konsumiert, Selbstmord verübt, Konflikte mit Gewalt thematisiert, der Wert der Familie und die Autorität der Eltern infrage gestellt, Sexualität, Pornographie und Krankheiten (darunter fällt in Russland auch Homosexualität) verhandelt und Schimpfwörter enthalten sind.“ Im „Räuber Hotzenplotz“ wird geflucht, und in Michael Endes „Jim Knopf“ genehmigt man sich bisweilen einen Schluck aus der Rum-Pulle. Freilich ist diese Attacke zur Vernichtung eines ganzen Bereichs des literarischen Lebens, wie ihn in dieser Verbissenheit nicht einmal die Kommunisten vor 25 Jahren betrieben, auf der Ebene des Hotzenplotz nicht zu verhandeln.
So richtig böse geht es nämlich im Kleingedruckten zur Sache. Die russischen Bürger werden dazu aufgerufen, Anzeige zu erstatten, wenn sie sich über den Inhalt eines Jugendbuchs ärgern, so dass Buchhandlungen oder Verlegern der Prozess gemacht werden kann. Die Hetze, zu der aufgerufen wird, hat schon begonnen. Nach der Veröffentlichung von Beate Teresa Hanikas Roman „Rotkäppchen muss weinen“ gab es nach den Worten von Christiane Raabe öffentliche Anfeindungen gegen den Verlag von Seiten der Journalisten und Eltern. Ein bezeichnender Fall, weil dieser Roman, der zu den literarisch besten deutschen Texten im Jugendbereich der letzten zehn Jahre zählt, subtil die Auswirkungen sexuellen Missbrauchs thematisiert. Hier offenbart sich, dass ein Gesetz, wie es hier unter dem Mäntelchen des Jugendschutzes formuliert wird, keinen Schutz bietet, sondern die Auseinandersetzung über gesellschaftliche Probleme wie Missbrauch oder Gewalt im Keim zu ersticken versucht.
Interessant auch, wie umsichtig dieses Zensurgesetz angelegt ist. Indem es bewusst auf die Denunziation setzt, fordert es konsequent zum Kesseltreiben gegen die Kulturschaffenden auf. Wir kennen solche Gesetze aus den dreißiger Jahren, als man das Wort von der Entarteten Kunst erfand.
Was kann man tun? Widerstand könnte sich formieren, und zwar gleich in den oberen Etagen der literarischen Repräsentation. Der Vorsteher des Börsenvereins und der Vorsitzende des PEN sind gefragt. Verleger, Autoren, Journalisten und Leser müssen zusammenstehen, denn dem russischen Beispiel werden auch andere undemokratische Regime in Europa folgen wollen.
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