Eine Grillparty mit Familie und Freunden. Tagelang hat man das Essen vorbereitet, die Kinder spielen im Haus bzw. hängen vor dem Fernseher ab, und dann geschieht es. Der dreijährige Hugo, der allen auf die Nerven geht, bekommt von Harry eine geknallt. „Nur eine Ohrfeige“ lautet der deutsche Titel von Christos Tsiolkas Gesellschaftsroman. Tsiolkas wurde als Sohn griechischer Immigranten in Melbourne geboren. In diesem Milieu spielt auch seine Geschichte, die aus dem Zentrum eines Bürgertums erzählt, das man in Australien ebenso wie in den USA und Europa findet. Hier setzt es sich aus Griechen, Indern und Australiern zusammen, manche sind schnell zu Geld gekommen, manche befinden sich auf dem Weg zum sozialen Absturz. Es gibt die Welt der Frauen und die der Männer, beide auf ihre Weise in sich geschlossen und doch durch Heirat, Freundschaft und ethnische Zugehörigkeit miteinander verstrickt.
Das alles droht in einem Wirbelsturm auseinanderzufliegen. Zunächst gibt es nur zwei Positionen: Die einen sagen, ein Kind schlägt man nicht, die anderen sind der Meinung, dass Hugo einmal ein paar hinter die Ohren verdient hat. Aber schon bald zeigt sich, dass dieser Konflikt nur einen willkommenen Anlass darstellt, um soziale und ethnische Ressentiments, die unter der Oberfläche der aufgeklärten modernen Multikulti-Gesellschaft schlummern, aufbrechen zu lassen. Angeheizt wird das Ganze durch Rosie, die Mutter von Hugo, eine labile Person, die in ihrem gekränkten Narzissmus keine Entschuldigungen akzeptiert und einen Keil in die Großfamilie treibt, indem sie nur noch zwischen denen unterscheidet, die für sie oder gegen sie sind.
Christos Tsiolkas hätte aus dieser Geschichte eine moderne Kohlhaas-Variante machen können, tatsächlich wird der Fall, in dem Gerechtigkeit und gekränkte Eitelkeit bald nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, immer weiter betrieben und landet schließlich vor Gericht. Aber Tsiolkas, der sein Handwerk beim Fernsehen als Drehbuchautor gelernt hat, findet eine faszinierende Form für seine Story, indem er aus der Perspektive von vier Frauen und vier Männern erzählt. So muss jeder sein eigenes Familienleben überdenken, die Ehen werden auf den Prüfstand gestellt, die Freundschaften und die Rolle, die der Sex für Männer und Frauen spielt. So erhält die Geschichte zusätzlichen Zündstoff. Gut 500 Seiten umfasst der Roman und man möchte keine missen, denn Tsiolkas etabliert sich mit diesem Werk als legitimer Nachfolger eines John Updike. Stets hat er die gesellschaftlichen Verwerfungen im Blick, vermag aber in jedem Moment an der Seite seiner Figuren das einzelne psychologische Porträt zu zeichnen. Und er besitzt ein Gespür für das Drama der Männer und der Frauen, so dass die Ehe mit ihren komplexen Strukturen zum eigentlichen Thema des Vorstadtromans wird. Wie Liebe und Hass in einem Topf brodeln, jeder seinen Teil Selbstverwirklichung beansprucht und zugleich in der Enge von Familie und sozialen Verpflichtungen eingepfercht ist, das sind Konflikte, die Tsiolkas mit großem psychologischen Verständnis und einem Talent für die Entwicklung realistisch scharf gezeichneter Bilder zu entwerfen versteht. Wenn man einen Roman dieses Frühjahrs gelesen haben muss, dann ist es dieses kluge, erotisch aufgeladene Gesellschaftsporträt.
Christos Tsiolkas: Nur eine Ohrfeige | Deutsch von Nicolai von Schweder-Schreiner | Klett-Cotta, 510 S., 24,95 Euro
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