Elfriede Jelinek, berüchtigt als „Nestbeschmutzerin“ wegen ihrer scharfen Kritik an ihrem Heimatland Österreich und dessen lückenhafter Erinnerungskultur, hat mit „Angabe der Person“ erneut eine furiose Abrechnung mit unserer Gesellschaft, ihrer Schuld und ihren Schulden vorgelegt.
Fluchtpunkt ihres neuen, sehr persönlichen Buchs, das sich wie viele ihrer letzten Texte nicht eindeutig in ein bestimmtes literarisches Gerne einordnen lässt, ist ein steuerliches Ermittlungsverfahren gegen sie selbst. Dieses wurde in der Realität mittlerweile längst eingestellt. Doch die aufwändige Auswertung selbst intimster E-Mails nahm Elfriede Jelinek zum Anlass, eine Rückschau auf ihr Leben zu unternehmen. Wem die Literaturnobelpreisträgerin bereits ein Begriff ist, kann sich ausmalen: Zimperlich geht sie nicht gerade vor! Mit unvergleichlicher Sprachgewalt, bei der jeder Satz den vorangegangenen unterläuft, wirft sie sich von ihrem privaten Finanzfall ausgehend in eine wilde, von Sarkasmus getränkte Reflexion über globale Kapitalströme.
Zugegebenermaßen: Es ist ein anspruchsvolles Unterfangen, den ungebändigten Assoziationsströmen zu folgen. Doch einmal drin, ist es quasi unmöglich, sich der rauschhaften Sprache zu entziehen. Die Autorin hangelt sich von Rundumschlägen auf die Behörden, die Politik und ihre öffentlichen Figuren über Kapitalismuskritik bis hin zur NS-Vergangenheit und den beschlagnahmten jüdischen Vermögen.
Die Auseinandersetzung mit den Schandtaten der Nazis und die Konfrontation der Täter ist ein Lebensprojekt Jelineks. Eine Obsession, die sich u.a. aus ihrer Biografie ableiten lässt, denn ihre Verwandtschaft väterlicherseits war jüdisch und wurde im Holocaust vertrieben oder ermordet. Mitte der 90er kulminierte ihre Anklage der NS-Verbrechen und ihrer Verleugner in dem (nicht zufällig) 666 Seiten langen Opus „Die Kinder der Toten“, in dem sie die Leichen aus Österreichs Keller ans Tageslicht zerrte.
Doch nicht nur mit der Gesellschaft zieht Elfriede Jelinek vor Gericht, sondern auch mit sich selbst. Sie zieht Bilanz und schreibt selbstironisch: „Mir glaubt man höchstens, daß es mich gibt. Sonst glaubt man mir nichts.“ Ob die Erzählstimme der Autorin sich hier nicht womöglich unrecht tut?
Elfriede Jelinek: Angabe der Person | Rowohlt Verlag | 192 S. | 24€.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Seelen-Klempner
Susann Pásztor liest in Leverkusen
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25