Ein Buch über alles. Ein Buch, das die Welt zwischen seinen Einband zu packen versucht. Um ein solches Unternehmen angehen zu können, muss man ein Autorenleben hinter sich gebracht haben. „Das Labyrinth der Welt“ nennt Dieter Forte sein Buch, das die Geschichte der Stadt, ach was, die Geschichte des Abendlands, vielleicht sogar die der menschlichen Zivilisation beschreibt. Wie ist es entstanden, dieses Gebilde, in dessen Strukturen wir nach Tausenden Jahren noch leben? Ja, ein Gebilde ist es, das Wort zeichnet den Weg schon vor, denn die Ansiedlung hat ein Bild von sich entwerfen müssen. Nur so vermochte sie sich zu entwickeln. Später dann zeichneten geschriebene Texte dieses verinnerlichte Bild der Stadt nach.
Dieter Forte liefert eine Genealogie der Stadt in Form von Erzählung, Märchen, Dialog und Essay und wählt Basel als konkretes Vorbild für sein Projekt. Forte, der in Düsseldorf das Licht der Welt erblickte und seit vier Jahrzehnten in der anderen Rheinstadt, im geographischen Zentrum Europas, lebt, zählt zu Deutschlands bedeutendsten Autoren. Die Stadt, das ist für ihn das Medium, in dem das Wissen und die Erfahrung zusammenfließen und in Texten und Bibliotheken ihre Verdichtung erfahren. Die Bücher, das Lesen, die Bilder – sie sind sein zentrales Thema, zu dem er immer wieder zurückkehrt, nachdem er über die Kathedralen, die Bürgermeister, die Henker, die Narren und die Bürger geschrieben hat. Ein ungeheures Projekt ergibt sich aus dem Versuch, dieses labyrinthische Gebilde sprachlich in den Griff zu bekommen. Das ist erfahrungssatte Prosa, die mutig auf die Horizontlinie der Vergangenheit zugeht. Forte setzt keine Jahreszahlen als Orientierungsmarken, sondern misst einen mythischen Raum aus, in dem die Zeit nur ungefähre Konturen besitzt. Weil so viel gegriffen werden soll, kommt es zu häufigen Aufzählungen, für Momente beginnt der Erzähler zu raunen und dringt dann doch wieder tief in die Seele des Stadtkörpers ein – einen zweiten, ätherischen Körper der Stadt, der zart und vergeistigt und unzerstörbar anmutet.
Die Kraft zum Schreiben speist sich offenbar aus der Lust an der phänomenalen Entwicklung der Stadt, den Anekdoten, die von Kupferstechern, Alchemisten, Bankiers und immer wieder von den Malern und Autoren erzählen. Wunderbar chaotisches Material, das nach einem Erzählfaden verlangt, der ihm Sinn und Bedeutung verleiht. Ein Unterfangen, das nur aus dem altmodischen Geist deschristlichen Abendlandes hervorgebracht werden kann. Und diese Aufgabe musste natürlich in dem Moment in Angriff genommen werden, in dem die Welt nicht länger als ein Organismus aufgefasst wurde, der Bedeutung in sich birgt. „Geschichten muss man so erzählen, dass sie einem helfen“, heißt es in dem Buch. Hier helfen sie, weil man eine Vorstellung von der Stadt als Gebilde bekommt, in dem sich Zeit verdichtet, und so stellt dieses Buch ein gehaltvolles Leseerlebnis dar. 260 Seiten sind nicht viel, aber man schlägt sie immer wieder auf, weil man mit diesem Buch nie fertig werden kann. Es hilft einem, die Stadt wieder neu und aufmerksam wahrzunehmen, nach ihren Geschichten zu forschen und sie sich erzählen zu lassen.
Dieter Forte: „Das Labyrinth der Welt. Ein Buch.“ | S. Fischer Verlag | 260 Seiten, 20 Euro
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