Die glücklichsten Menschen Europas sollen in Skandinavien leben. In der Literatur der Nordländer spiegeln sich die aktuellen Daten der Soziologen allerdings nicht unbedingt wider. Obwohl der zweite Roman seines insgesamt fünfteiligen Prosa-Experiments den Titel „Lieben“ trägt, schildert Karl Ove Knausgard doch eher die mühseligen Versuche, zur Liebe zu finden, als die himmlischen Momente, in denen die Lust zur Kernschmelze einer Beziehung wird. Knausgard watet mutig und aufrichtig durch die Gewässer des Alltags, der durch Kinderbetreuung, Überarbeitung und die labile Psyche seines jungen Elternpaars zu einem trüben Revier verkommen ist. Die Stärke des Romans ist die Entschlossenheit, mit der er sich auf diese Realität mit all ihren Details einlässt. Die Erotik als Motor einer Lebens- und Paargeschichte gerät ihm dabei auch sprachlich unter die Räder. Dem von der Kritik so hoch gelobten Norweger fällt dann, wenn es zwischen seinem Paar kräftig funkt, nur die Bezeichnung „leidenschaftlich“ für das Entgleisen aller Anstandsregeln ein.
Dass die Erotik eine Kunst ist, die nach einem Gespür für Körper und Sprache verlangt, demonstrieren Nicholson Baker und sein Übersetzer Eike Schönfeld im „Haus der Löcher“. Mit einer Heiterkeit, in der die verspielte Freude an den menschlichen Gelüsten ihren Ausdruck findet, liefert Baker einen Band mit Erzählungen, der schlagend beweist, dass auch Pornographie Kunst sein kann. Das Buch besteht aus zahlreichen skurrilen Erzählungen, in denen Menschen durch die Öffnung einer Waschmaschine, eines Strohhalms im Cocktailglas oder eines Lochs auf dem Golf-Grün in eine Art Ferienressort gesaugt werden. In einem Ton herrlich naiver Ironie erleben Männer und Frauen ihre Befriedigung in einem Park der erotischen Herausforderungen, und die besteht in der Begegnung mit den eigenen Begierden. Der Amerikaner fabuliert über weibliche Masturbationsfantasien in einer Unschuld, die voller Komik steckt und doch immer augenzwinkernd nach dem erwachsenen Leser verlangt. Wünsche werden erfüllt, und trotzdem wird es nicht langweilig. Baker und sein deutscher Übersetzer erfinden Wörter, polieren die Sprache des Sex' auf, lösen sie aus ihrer Statik und bleiben doch stets liebevoll im Umgang mit den Wonnen des Körpers.
Um ein Erregungspotential ganz anderen Kalibers dreht sich der Roman „Infrarot“ der Kanadierin Nancy Huston. Sie erzählt von einer Fotografin, die die Männer im Moment höchster Erregung mit einer Infrarotkamera fotografiert. Die Bilder zeigen die Wärme der Männer und dokumentieren die physiologische Wahrhaftigkeit der Lust. Die Fotografin Rena zieht mit ihrem alten Vater und ihrer Stiefmutter acht Tage durch Florenz. Die Begegnung mit der Kunst der Renaissance bietet ihr immer wieder Gelegenheit, die Geschlechterrollen mit scharfem, analytischem Blick, aber auch mit Zärtlichkeit zu betrachten. Während der Reise verliert sie ihren Liebhaber, ihren Job, die Handtasche, und doch geht sie voller Zuversicht aus der Stadt. Huston liefert eine erwachsene Erotik, Sexualität bleibt in Renas Welt nie ohne Bedeutung. Eine faszinierende Wechselbeziehung entsteht, zwischen dem Leben, das konsequent die Forderung stellt, der sexuellen Seite einer Beziehung zu folgen, andererseits aber auch demonstriert, wie erotische Begegnungen die Menschen verändern. „Infrarot“ zeigt die Farbe der Liebe, die durch alle Beziehungen hindurch glüht.
Karl Ove Knausgard: Lieben. Deutsch von Paul Berf. Luchterhand. 764 S., 24,99 €
Nicholson Baker: Haus der Löcher.Rowohlt. 318 S., 16,99 €
Nancy Huston: Infrarot.Rowohlt. 334 S., 19,95 €
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