Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
14 15 16 17 18 19 20
21 22 23 24 25 26 27

12.579 Beiträge zu
3.805 Filmen im Forum

Annie Ernaux
Foto: © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Glühender Zorn

04. Dezember 2023

„Die leeren Schränke“ von Annie Ernaux – Textwelten 12/23

„Deutsche Erstausgabe“ steht in dem soeben erschienenen Band 1549 der Bibliothek Suhrkamp. Es handelt sich um Annie Ernaux Text „Die leeren Schränke“, den die Französin 1974 veröffentlichte. Wieso kommt dieses Buch erst 50 Jahre nach seinem Erscheinen zu uns nach Deutschland? Wie gut hätte es getan, diesen Roman in den 1970er Jahren zur Hand zu haben, als in Deutschland Autorinnen wie Christa Wolf, Verena Stefan oder Karin Struck unter dem unsäglichen Begriff der sogenannten Frauenliteratur firmierten.

„Die leeren Schränke“ waren der Debütroman der damals 34-Jährigen. Um einen Roman handelt es sich nur deshalb, weil Annie Ernaux der Protagonistin den Namen Denise Lesur gab. Wir wissen heute, dass alles, wovon sie erzählt, aus ihrer eigenen Erfahrung besteht. Der Stoff ist der gleiche wie der, der uns aus den Bänden „Die Scham“, „Das andere Mädchen“ oder dem verfilmten Text „Das Ereignis“ bekannt ist. Letzterer beschreibt das traumatische Erlebnis einer Abtreibung als 20-Jährige und mit ihm beginnt auch das Debüt. Denise liegt auf ihrem Bett und wartet darauf, dass die schmerzhaften Anwendungen der Engelmacherin wirken. Dabei läuft der Film ihres bisherigen Lebens ab. Die Kindheit in der Kleinstadt, der Überlebenskampf der Eltern in ihrem Kramladen, die ersten sexuellen Erlebnisse und die Beziehung mit einem Kommilitonen aus wohlhabender Familie, der sich sofort von ihr trennt, als er von der Schwangerschaft erfährt.

Alle Sujets des späteren Werks der letztjährigen Nobelpreisträgerin sind hier schon vorhanden. Allerdings ist der Ton ein anderer. Die kristalline Klarheit ihrer Sprache erwirbt sie erst später. Dieses Debüt klingt ruppiger, oftmals zornig und verhehlt nicht den Hass auf die kleinbürgerliche Welt ihrer Herkunft, der in der jungen Frau lodert. Das Klassenbewusstsein der Denise Lesur erklärt uns hellsichtig den Hass, der heute unsere Gesellschaften vergiftet. Der Wucht und Sprachmacht, mit der Annie Ernaux Sexualität, weibliche Lust und die subtile wie die offene Unterdrückung der Frauen beschreibt, ist in der Deutschen Literatur der 1970er Jahre nichts an die Seite zu stellen.

Annie Ernaux: Die leeren Schränke | Aus dem Französischen von Sonja Finck | Suhrkamp | 220 S. | 23 €

Thomas Linden

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Der Buchspazierer

Lesen Sie dazu auch:

Förderung von Sprechfreude
„Das kleine Häwas“ von Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz und Marielle Rusche – Vorlesung 10/24

Geschichte eines Vierbeiners
„Wie die Katze zu uns kam“ von Lena Zeise – Vorlesung 08/24

Kollektive Selbstermächtigung
„Be a Rebel – Ermutigung zum Ungehorsam“ von Victoria Müller – Literatur 07/24

Die Stimme des Volkes?
Vortrag „Was Populisten wollen“ in Köln – Spezial 06/24

Kindheit zwischen Buchseiten
„Die kleinen Bücher der kleinen Brontës“ von Sara O’Leary und Briony May Smith – Vorlesung 05/24

Sprachen der Liebe
„So sagt man: Ich liebe dich“ von Marilyn Singer und Alette Straathof – Vorlesung 02/24

Reichtum und Vielfalt
„Stärker als Wut“ von Stefanie Lohaus – Klartext 12/23

Die Umweltschutzuhr tickt
„Der Wald ohne Bäume“ von Jeanne Lohff – Vorlesung 12/23

Nahrhafte Lektüre
„Das Alphabet bis S“ von Navid Kermani – Textwelten 11/23

Roman zur Zeit
„Taormina“ von Yves Ravey – Textwelten 09/23

Ein Zirkus für alle
„Adam und seine Tuba“ von Žiga X Gombač – Vorlesung 08/23

Frauen, die die Welt veränderten
„Little Leaders – Mutige Frauen der Schwarzen Geschichte“ von Vashti Harrison – Vorlesung 08/23

Literatur.

Hier erscheint die Aufforderung!