Pflichtschuldig und routiniert räumen die Tageszeitungen einmal im Jahr ihre Titelseiten frei, um der Welt der Bücher Platz zu machen. Immer dann nämlich, wenn die Frankfurter Buchmesse startet. Seit 2005 wird dabei auch über den Buchpreis diskutiert, der seitdem im Rahmen der Messe verliehen wird. Bemäkeln die einen den Preis als Marketingcoup einer „bestsellersüchtigen“ Branche, stören sich die anderen an Siegern, die zwar gute Kritiken, aber kaum Leser finden. Kurz – die Jury scheint vieles richtig zu machen. Auch dieses Jahr stehen mit „Streulicht“ von Deniz Ohde und „Herzfaden“ von Thomas Hettche zwei lesenswerte Überraschungen auf der Nominiertenliste, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Im Falle von „Streulicht“ (Suhrkamp) ist schon überraschend genug, dass die junge Frankfurterin Deniz Ohde gleich mit ihrem Debütroman auf der Shortlist steht. Noch viel überraschender ist aber, dass sie das mit einem Thema geschafft hat, dem man selten in der eher bürgerlichen deutschen Literatur begegnet. „Streulicht“ schildert das Aufwachsen einer jungen Frau in den Vororten Frankfurts. Im Schatten großer Chemieparks, die die Luft sauer und den Schnee klebrig machen, sucht die Protagonistin aus dem Arbeitermilieu ihr Glück in den Mühlen der Bildungsinstitutionen. Dabei steht sie in der Tradition von „Aufsteigerromanen“, die durch Didier Eribon vor allem in Frankreich populär wurden. Anders als ihren französischen Kollegen geht es ihr aber weniger um soziologische Reflexionen über Klasse und Gender. Auch Ohde hat ihren Bourdieu gelesen, erzählt aber lieber plastisch von den Lebensrealitäten, die sich hinter solchen Begriffen verbergen. Damit ist ihr ein wuchtiger Roman gelungen.
Thomas Hettche hat seinen Platz in den Beststellerlisten und Feuilletonspalten schon länger sicher. Die Nominierung von „Herzfaden“ (Kiepenheuer & Witsch) ist aus anderen Gründen ungewöhnlich. Der Roman führt zwei Erzählfäden ein, die selten zwischen zwei Buchdeckeln zu finden sind. Zum einen ist da ein kleines Mädchen, das sich im Theater verirrt und plötzlich von der quicklebendigen Prinzessin Li Si, Jim Knopf und all den anderen Figuren aus der Augsburger Puppenkiste umringt wird. Zum anderen erzählt Hettche die Geschichte von Walter Oehmichen, der mitten im Zweiten Weltkrieg zusammen mit seiner Tochter Hannelore, auch „Hatü“ genannt, ebenjene Augsburger Puppenkiste kreiert. Hettche gelingt ein charmanter Roman, der Märchen, Kinderbuch und Kulturgeschichte der Nachkriegszeit vereint und so ein Lesererlebnis für Groß und Klein bereitet.
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