Der „Literarische Salon“ besteht bereits seit 10 Jahren in Köln. Navid Kermani und Guy Helminger laden interessante Schriftsteller-Kollegen zum Gespräch. An diesem ungewöhnlichen Abend des 6. März allerdings kommt ein Gespräch im eigentlichen Sinne kaum zustande. Aber dafür hat man auch nicht jeden Tag eine aktuelle Nobelpreisträgerin zu Gast.
Swetlana Alexijewitsch ist in Köln, was auch bedeutet, dass der Literarische Salon nun im dennoch ausverkauften Depot 1 in Mülheim stattfindet. Auf der Bühne Platz nehmen neben Alexijewitsch, Kermani und Helmigner noch eine Dolmetscherin und die Schauspielerin Annika Schilling, die den deutschen Text liest. Dass nun kein Gespräch zustande kommt, liegt sicherlich nur zu einem kleinen Teil an den Verzögerungen durch die Übersetzung. Es ist die ungewöhnliche Art der Schriftstellerin und Journalistin Alexijewitsch, auf Fragen zu antworten: Sie holt weit aus, antwortet in fast lyrischer Sprache und nicht gerade direkt auf die Fragen der Gastgeber. In ungewöhnlicher Weise erscheint dieser Sprachstil wie eine Entsprechung zu ihren Texten. Ungewöhnlich deshalb, weil man in ihnen ja gerade nicht sie zu hören glaubt, sondern die Menschen im Osten Europas, mit denen sie Gespräche geführt hat. Das sei doch keine Literatur, sondern Journalismus, ist daher auch ein häufig zu hörendes Urteil seit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises.
Die dargebotene Lesung eines Gesprächs aus dem Band „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ dagegen spricht eine andere Sprache. Da erinnert sich eine Frau an ihre Verstorbenen, blickt zurück auf ein Leben in der Sowjetunion. Harte Arbeit, unerfüllte Hoffnungen – und der schmerzliche Verlust der eigenen Identität durch den Zusammenbruch der Diktatur. Da ist die Stimme einer Frau zu hören, die Alexijewitsch erzählt, aber sehr kunstvoll strukturiert durch kleine Wiederholungen. Durch die persönliche Erinnerung scheint der politische große Bogen der Geschichte hindurch. Der Leser erkennt durch Alexijewitschs Werk manche Zusammenhänge der großen und schrecklichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, wie Navid Kermani bemerkt. Er beschreibt das Lesen aller Bände nacheinander als einmalige Geschichtsstunde.
Ähnlich wie dieser Text erscheint nun auch Swetlana Alexijewitschs Art zu antworten. Nur unterbrochen von der Übersetzung spannt sie große Bögen, als seien ihre Sätze von langer Hand geplant. Dabei sind unerwartete Wendungen ebenso zu erleben wie kurze, stark betonte Sätze oder ausschweifende Beschreibungen. Und das nur auf die Frage, wie man eigentlich einen Menschen befragt. Kermani und Helminger können das an diesem Abend nicht so ausführlich ausprobieren. Drei Fragen nur in einer ganzen Stunde, nach knapp zwei Stunden ist man durch die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts im Europa von heute angekommen. Ein eindrucksvoller Auftritt, der gar nicht nach Journalismus klingt, aber mit einer sehr pessimistischen Aussicht endet.
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