Ein schwarzer Ziegelstein, so liegt es in der Hand, das Buch von Josef Śnobl. Wer es aufschlägt, begibt sich auf eine „Nachtfahrt“ durch eine urbane Welt, in der scheinbar unendliche Dunkelheit, Regen, Wind und Schnee regieren. „Die Großstadt ist zwischen vier und sechs Uhr morgens am schönsten; gesetzlos und wild, die Zeit ist aufgehoben. Jeder Nachtfahrer kann davon einen Blues singen“, meint Josef Śnobl. Tatsächlich kann man zu jedem Kapitel des Buchs Musik von Eric Clapton, Rory Gallagher oder Elmore James hören, da die Texte mit Codes für Spotify versehen sind. Śnobl, der in Prag geboren ist und als Fotograf noch viel von der weichen-traumhaften Stilistik der fotografischen Tradition dieser Stadt in sich trägt, bietet nicht nur Akustik.
25 Jahre hat er sich als Künstler seinen Lebensunterhalt mit Taxifahren verdienen müssen, Śnobl kennt auch die Gerüche dieses Metiers. Das starke Parfüm der Frauen, die Gerüche des Alters, der Krankheit oder den im Sitz konservierten Schweiß des Tagfahrers. Das klingt ernüchternd, vor allem wenn man an betrunkene und gewalttätige Fahrgäste denkt. Aber es ist auch im eigentlichen Sinne romantisch, das Schwarz, die nächtliche Stille, die erotische Seite des Metiers, die in kurzen sexuellen Abenteuern oder in melancholischen Begegnungen mündet. Wie die Stadt und ihre Menschen ticken, das hat der sensible Künstler in seiner Zeit in den Straßen von Köln erspürt. Die Topographie der Stadt mit ihren so gegensätzlichen Vierteln wie Ehrenfeld, Lindenthal, Sülz, Nippes oder ihren Stadtteilen auf der rechtsrheinischen Seite.
Die Texte des Buchs stehen den Fotografien in nichts nach. Manchmal wünschte man sich, dass ihr Autor weniger ruppig mit den Frauen umgehen würde, die ihren Körper für Geld verkaufen. Aber die Frauen sind es auch, die ihn immer wieder in Erstaunen versetzen. Dass hier ein Psychologe am Steuer sitzt, bemerkt man nicht alleine im Dialog mit den psychisch labilen Fahrgästen oder der Begegnung mit Siegmar Polke, der Śnobl zu seinem Lieblingsfahrer auserkoren hatte, wenn er schwankend auf den Beinen in sein Atelier in Zollstock gebracht werden wollte. Hier kann jemand seinen Alltag beschreiben und zugleich Worte für das finden, was in ihm vorgeht. Wie mag es sein, so oft in der Nacht warten zu müssen? An diesem Geheimnis der Taxifahrer lässt uns Śnobl ebenso teilhaben, wie an jenem Gefühl der Geborgenheit, hinter der Scheibe zu sitzen und die kalte, nächtliche Welt gleich einem Fisch im dunklen Aquarium zu durchstreifen. Er erinnert sich: „Auf der Autobahn in voller Fahrt von einem Wagen überholt. Am Lenkrad eine Blondine, sich die Haare kämmend. Ein Engel in einem Auftrag eilend… .“
Ja, etwas Traumverlorenes haben diese verwischten Fotografien, in denen Einsamkeit, Melancholie und Geschwindigkeit zu einem Stream verschmelzen. Der wolkendurchzogene Sonnenaufgang, die regenverschmierten Lichter der Straße oder das Bild der jungen Frau auf dem Beifahrersitz, die ihm fröhlich herausfordernd die Zunge heraus streckt. Jede dieser Fotografien erzählt von einer Realität, die immer in Bewegung ist. Die Bilder lassen keinen Zweifel daran, dass sie aus dem Strom des Alltags herausgepickt wurden. Jedes besaß ein Vorher und ein Nachher. So liest sich der ganze Band wie ein Film zwischen zwei Buchdeckeln. Hier verleugnet die Fotografie nie ihren Charakter als Illusionsmaschine. Aber sie trägt eben auch dazu bei, dass wir beim Lesen das Abenteuer der Nacht noch einmal erleben dürfen.
Josef Śnobl: Nachtfahrt | Hrsg. v. Reinhard Matz | Emons Verlag | 242 S. | 25 €
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