Es gibt Bücher, die liest man nicht von der ersten bis zur letzten Seite hintereinander weg. Das wäre zu schade, auch Pralinen verschlingt man nicht hastig wie eine Tafel Schokolade. Lydia Davis, Übersetzerin aus dem Französischen und dem Deutschen, lebt zwar an der amerikanischen Ostküste, besitzt aber immer ein Auge für die kulturelle Welt Europas. Über Jahre taucht sie ab, sammelt Texte und Begebenheiten und ist nun wieder mit einem prallen Kompendium von Stories präsent, für das sie in den USA schon üppig mit Literaturpreisen bedacht wurde. „Unsere Fremden“ enthält Texte, die sich über 20 Seiten erstrecken, und andere, die aus nicht mehr als zwei knappen Sätzen bestehen. Nicht alleine deshalb lohnt es sich, dieses vom Droschl Verlag schön gestaltete Buch mit sich zu führen, sei es im Rucksack oder auf der Rückbank des Autos. Man kann es irgendwo aufschlagen und findet sofort eine Anekdote, eine alltägliche Szene oder einen Gedanken, der manchmal aber nicht immer in einer Pointe mündet.
Stets handelt es sich um Begebenheiten eines Alltags, der pur ohne jeden Glamour daherkommt. Da werden Ehepaare belauscht, Gäste im Restaurant beäugt, es gibt Verwechslungen oder Gespräche unter Freundinnen, dann wieder Erlebnisse im Zug oder literarische Anekdoten. Manche bieten treffsichere Gags, andere verrinnen leise und gerade die halten sich lange im Gedächtnis. Aber selbst wenn Davis von Lesereisen berichtet, kann man nie so ganz sicher sein, ob sie nun die Person ist, die hier erzählt, oder jemand anderes. Denn jede dieser Prosaminiaturen könnte auch aus anderer Perspektive erzählt sein und dann würde man über die Person lachen, die hier scheinbar die Deutungshoheit besitzt. Verbindendes Element aller Geschichten bleibt das Beobachten. Beispielhaft dafür ist die Titelgeschichte „Unsere Fremden“. Die „Fremden“ sind nämlich ihre Nachbarn. Manche bestehlen sie, aber sie selbst spielt ebenfalls mit dem Gedanken, eine Nachbarin zu bestehlen. Man kann sich halt auch selbst fremd sein. Reich an Überraschungen sind diese skurrilen, humorvollen und nicht selten weisen Geschichten schon allein durch ihren ironischen Ton, der stets auf einen doppelten Boden verweist.
Lydia Davis: Unsere Fremden | A. d. Amerikanischen von Jan Wilm | Droschl Verlag | 312 S. | 26 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Seelen-Klempner
Susann Pásztor liest in Leverkusen
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25