Was für ein bitterer Rohrkrepierer! Da hatten sie eigens einen Kugelschreiber aus einem Maschinengewehrprojektil gefertigt – mit der bahnbrechenden Gravur„Die Kugeln schrieben unsere Vergangenheit – die Bildung schreibt unsere Zukunft” – um endlich den Frieden in dem jahrzehntelangen Krieg zwischen FARC-Rebellen und kolumbianischer Regierung zu fixieren. Und dann ist es doch wieder eine privilegierte Minderheit, die ‚ihr Volk‘ mittels geschürter Ängste und/oder vermeintlicher Gewinnmaximierungen mobilisiert, während sich der ‚kleine Mann‘ ganz pazifistisch betrinkt, statt zur Wahl zu gehen und für seine Interessen zu kämpfen…
Beinahe wehmütig denkt man in solchen Momenten an den Triumphzug der Genossen Fidel, Che & Co. zurück, nachdem sie Kuba vom Joch des Tyrannen Batista befreit hatten. Doch so mitreißend sich die Fotografien und das siebentägige Interview mit dem Máximo Líder von Lee Lockwood auch ausnehmen, wird bereits in den Bildern und Worten aus den glorreichen Anfangsjahren deutlich, dass „Castros Kuba“ [Taschen] zwar von der Grundidee im Sinne des Volkes, aber nicht von diesem konstituiert wurde. / Das Dilemma von politischen Systemen eben. Damit sie allerdings auch im Sinne der Regenten funktionieren, bedarf es eines Opiats fürs Volk, das mal als kapitale Wohlstandslüge, mal als ideologisches Märtyrium daher kommt – oder sich wie in Ramita Navais „Stadt der Lügen“ [Kein & Aber] eines historisch zementierten inneren Konflikts bedient: auf dass das Herzblut der Pakistaner zwischen religiösem Gehorsam und kultureller Selbstverwirklichung versickert.
Auf die Spitze getrieben wird diese Willfährigkeit ‚natürlich‘ von den in sozialen Entwicklungen vorauseilenden USA. Spirituell entseelt, hat sich hier die New Economy der puren Gier verschrieben: „Bad Boys, Bad Girls, Big Money“ [Manhattan]. Herrlich, mit welcher Tiefenschärfe Michelle Miller die einzelnen Profilneurosen im Rahmen des Börsengangs einer Dating-App implodieren lässt. Nur: Beim nächsten Big Thing wird alles wieder seinen skrupellosen Weg nehmen. / Da wundert man sich dann auch nicht mehr, mit welch schamloser Selbstgefälligkeit Massimo Carlottos Killer durch das Bunga-Bunga-Italien pflügt. Als gutbürgerlich-gelangweilter Linksaktivist ins lateinamerikanische Exil gezwungen, will er nach seiner Rückkehr „Am Ende eines öden Tages“ [Tropen] doch auch ‚nur‘ ein möglichst riesiges Stück der Torte.
Ja, sind wir denn des Wahnsinns fette Beute?! Was das System betrifft, lässt sich dies nicht leugnen. Guerillauafstände zwecklos, da sie nur die bestehenden Strukturen verstärken; erst recht die im Hintergrund. Umso bitterer wirkt die plakative Oberflächlichkeit von Steven Shores Alltagsfotografien, die in ihrer „Retrospektive“ [Kehrer] erbarmungslos zukunftsweisend sind. Ungeschminkte Abbilder und Portraits einer Gesellschaft in ihrer Umwelt – die unkommentiert darauf verweisen, welch Geistes Kind wir sind. / Gefangene einer faschistoiden Denktotalität, hört man Reverend Dabeler aus Almut Klotz‘ packendem Künstlerpaarbiografie-Fragment schnauben. Nicht zuletzt das ganze linke Hipster-und-Indi-Pack. Uniformierte Individualität im Gleichklang marsch! Gäbe es doch nur ein paar mehr „Fotzenfenderschweine“ [Verbrecher], die sich frei von kontraproduktiver Organisiertheit dem systemimmanenten Lug und Trug persönlich widersetzen…
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