London, now! Günstiger war‘s nie. Komm‘ mir vor wie‘n Katastrophentourist auf Schnäppchenjagd. Dabei will ich doch nur‘n alten Freund besuchen (ohne Hintergedanken). Fast 20 Jahre her, dass wir uns das letzte Mal leibhaftig gesehen haben. Mit der Hauptstadt des British Empire geht‘s mir selbstredend genauso. Während mir mein Bro jedoch unverändert erscheint, erkenn ich London kaum wieder. Wo sind denn die ganzen Wahrzeichen hin? Business Towers bestimmen die Sky Map. Und es werden immer mehr. Allerdings taugen Baukräne nicht als verlässliche Fixsterne. Entsprechend froh bin ich, dass ich mir mit „101 London Geheimtipps und Top-Ziele“ [Iwanowski] doch noch einen Reiseführer auf‘s Pad geladen hab. Und sei es nur zur Wahl der Ausgangspunkte meiner täglichen Wanderungen. Über Viertel und Szenen lässt sich generalisieren, über Menschen nicht. Also: Augen auf und Treiben lassen. Und über den eReader hinweg in Parks, Museen oder Kneipen vor sich hin sinnieren.
… So richtig komm ich nicht rein. Ich switche beständig zwischen Joseph Fink & Jeffrey Cranor „Willkommen in Night Vale“ [KlettCotta] und Aleksandar Hemon „Zombie Wars“ [Knaus] hin und her. Kann natürlich an der Ablenkung durch das Umfeld liegen. Ob Soho, Kensington oder die tatsächlichen ziemlich coolen Bars der New Media Area vor den Toren des Olympiaparks an den idyllischen viktorianischen Kanälen, alles erscheint mir überaus ambitioniert. Nur: Es fehlt der Punch. Genauso bei den Büchern. Nette Ideen und davon viele. Aber wo bleibt das Statement, der Wumms?! Schöngeistige Melancholie mit Schmunzelfaktor. Ich wink den Hippie-Punks auf ihrem Hausboot zum Abschied – und mach mich mit Óscar Martínez‘ „Eine Geschichte der Gewalt“ [Kunstmann] auf nach good old Brixton auf der anderen Seite der Metropole. Remember? „Guns of Brixton“, The Clash? Da, wo in den 80ies die Riots tobten. Eddy Grant?„Electric Ave.“? Da, wo Londons erste elektrisch beleuchtete Straße verläuft und afrocaribische Einwanderer den Kriegsruinen neues Leben eingehaucht haben. Tatsächlich kriegt man in den Gassen noch das von den Einwanderern geschätzte „Flank“/„Skirt“ für das abendliche Grillfest. Das Hipster-Aufkommen konterkariert allerdings meine Romantisierung des Viertels und versinnbildlicht zugleich die Malaise, die das erschütternde „Leben und Sterben in Zentralamerika“ (UT) hervorruft: Egomania oder die uniformierte Ästhetisierung der eigenen Individualität …
… „Haha, jetzt hast du dir den Social Beat aber nochmal richtig gegeben“, lacht mich mein Freund aus, als er mich zwei Tage später aus einem abbruchreifen Pub in Peckham schleift. In einem Rutsch hab ich mich von Heinz Strunks gottverlassener Freak-Show „Der goldene Handschuh“ [rowohlt] vom Abgrund der Reeperbahn über Fikry El Azzouzis Tragödie „Wir da draußen“ [DuMont] über muslimisch geprägte Jugendliche in europäischen Niederungen auf Jaroslav Rudiš‘ vom betonierten Nichts überwucherter „Nationalstraße“ [Luchterhand] gebeamt. Ein verheerender Cocktail, der in meinem Schädel Revolutionen ausruft. Aber ich schaff‘s ja kaum noch auf das Deck eines stillgelegten, zur Kunststätte erhobenen Parkhauses samt Barterrasse. Wow, was ne Aussicht! „Da, ganz da hinten, da, da findest du, wovon du sprichst.“ Ich starre und starre. Verflucht anstrengend. Ich blicke mich um. Schöne Menschen mit geistigen Getränken. Die Avantgarde und ihr persönlicher Brexit.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Dorf-Diorama
Urszula Honek im Literarischen Salon
Autor, Poet, Literaturfreund
Buchvorstellung in Köln
Annäherung an eine Mörderin
Prune Antoine liest in Bonn
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25