 
		Haben wir sie nicht schon oft gehört und vielleicht selbst propagiert, die Sätze: „Ich entscheide aus dem Bauch heraus“, oder: „Steh zu deinen Gefühlen und sei nicht so verkopft!“ Wer das sagt, hält sich demonstrativ etwas auf den authentischen Ausdruck seiner Persönlichkeit zugute. Eine Haltung, die im Fernsehen favorisiert wird, wo fehlende Bildung oftmals höher im Kurs steht als profundes Wissen. Wie man Naivität honoriert und dem dafür Gepriesenen mit Applaus einen überbrät, demonstrierte zuletzt noch Luke Mockridge, als er in seiner Show Pietro Lombardi wohlwollend versicherte: „Du bist so wunderbar authentisch.“ Dass er ihn damit wie ein Museumsexponat behandelte, störte offenbar niemanden im begeistert reagierenden Publikum.
Für den Philosophen Robert Pfaller hätte diese Situation möglicherweise ein Beispiel für die Infantilisierung unseres gesellschaftlichen Diskurses dargestellt. Er mahnt das Verschwinden einer „Erwachsenensprache“ an, so der Titel seines aktuellen Essays. Was unterscheidet erwachsenes Verhalten von kindlichem? Nicht alleine auf die eigenen Bedürfnisse und Empfindlichkeiten zu schauen, sondern Abstand zu Dingen zu halten, um Sachlichkeit bemüht zu sein und das Allgemeine gegenüber dem Subjektiven nicht aus dem Auge zu verlieren, könnte man antworten. Pfaller sieht diese Fähigkeiten auf dem Rückzug, und nicht nur das: Für ihn sind sie ein Symptom des Neoliberalismus, der das ohnehin angeschlagene Gesellschaftsgefüge weiter zu zerstören trachtet. Denn genau zu jenem Zeitpunkt, als die Schere der Vermögensentwicklung so exorbitant zwischen Arm und Reich auseinander zu klaffen begann, setzte auch die Besorgnis um die Empfindlichkeiten religiöser Gruppen, Genderfragen und ethnischer Herkunft ein. Für Pfaller sind sie nicht dem Ethos des Gleichheitsprinzips geschuldet, sondern im Gegenteil, er betrachtet diese Diskurse als Strategie, mit der gesellschaftliche Solidarität ausgehebelt, ja, ein Spaltpilz in die Gemeinschaft getragen wird und man soziale Gruppen zur Rivalität verleitet.
Anstatt die Situation aller Frauen zu verbessern, beschäftigt man sich mit Genderschreibweisen. Anstatt alle Migranten zu fördern, richtet man Programme für gezielte Gruppen ein. Wobei eine ganze Industrie von Beratern und eilig geschaffenen Institutionen ans Werk geht, um zu analysieren und Vorschläge auszuarbeiten, die letztlich ohne Erfolg bleiben müssen, weil sich die helfenden Hände sonst selbst abschaffen würden. So darf man sich fragen, was ist aus 50 Jahren Ringen um Gleichberechtigung geworden, wenn Frauen heute immer noch deutlich weniger verdienen als Männer?
Für NRW könnte man Pfallers These gut aktualisieren. Hier wurde den Schulen von oben für viel Geld die Inklusion aufgedrückt. Warum werden aber die Grundschulen, deren Zustand sich mitunter katastrophal darstellt, nicht grundlegend in Ordnung gebracht? Pfaller zieht den Bogen zu den rechten Parteien, die aus diesen Strategien, die die bedürftige Mehrheit vergessen, Kapital schlagen. Ein Versagen der politischen Linken, das er als linker Intellektueller zur Sprache bringt. Sein Buch analysiert präzise und enthält dazu in fast jedem Absatz konkrete Beispiele. Er zeigt, wie alltagsuntauglich die Gendersprache ist und wie wenig sichtbar sie eigentlich sein will. Deshalb formuliert Pfaller provokant den Slogan: „Her mit der dritten Toilettentüre.“
Robert Pfaller: Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur | S. Fischer | 256 S. | 14,99 €
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