Wir sind nicht nur angekommen, wir stecken mittendrin, im Zeitalter der Selbstinszenierung. Der Mensch – heute: Das Individuum – ist zur Projektionsfläche seiner selbst geworden. Wer bin ich, was bin ich und wie stell‘ ich mich am besten dar? Oder ehrlicher: Wer will ich sein, was will ich sein und wie bring ich das am authentischsten [sic!] rüber?! Dazu mag jeder stehen, wie er möchte. Aber Hand aufs Herz, speziell die Älteren unter uns, Männer wie Frauen: Waren und sind wir nicht alle stets aufs Neue gefesselt von den Fotografien eines Helmut Newton, gebannt von der entrückten Schönheit der Supermodels, den geradezu übernatürlichen Posen der Megastars fernab des biederen Seins …?
Natürlich, alles inszeniert. Aber was davon? Und was (hoffentlich) nicht? Ein Vexierspiel, das Helmut Newton und seine Frau Alice Springs in „us & them“ [Taschen] auf die Spitze treiben – mit Fotografien von ‚them‘, bei denen man wunderbar rätseln kann, welches Foto ein und desselben Promis von ihr oder ihm stammt, genauso wie bei den Selbstportraits, bei denen ihre stilistischen Unterschiede im ‚us‘ aufgehen. Ein echtes Cocktail-Vergnügen, aber wehe dem, der glaubt, im eigenen Sein mit diesem Schein konkurrieren zu können. / Dabei hätte die junge Frau alles Zeug dazu, wie sie mit ihrem Martini-Glas in die nächtliche Brandung tritt – ehe eine Welle nicht nur ihre Selbstinszenierung, sondern gleich ihr mühsam aufgebauschtes Selbstvertrauen mit sich reißt. 1958 unter „My Face for the World to See“ erschienen, trifft Alfred Hayes‘ Sezierung auch heute noch den wunden Punkt einer Gesellschaft, die (heimlich) „Alles für ein bisschen Ruhm“ [Nagel & Kimche] geben würde.
Gleiche Zeit, selber Ort: Auch in James Lee Burkes „Fremde(m) Land“ [Random House Audio, scharfzüngig gelesen von Dietmar Wunder] findet sich ein solches Sternchen, während der Hauptprotagonist gemeinsam mit einem Kriegsgefährten versucht, in der anderen Branche Fuß zu fassen, die dereinst Macht und Reichtum versprach: Dem Öl-Business. Doch: Unbedarfte Natürlichkeit und hehre Ideale sind in diesen Welten längst zum Abschuss freigegeben. / Im kultivierten Europa im Übrigen nicht minder: „1965 – Rue de Grenelle“ [Frankfurter Verlagsanstalt] stolpert ein deutscher Student in die historischen Ereignisse rund um den Mord an dem marokkanischen Oppositionellen Mehdi Ben Barka. Ein so geheimnisvolles wie faszinierendes Szenario, dem J.R. Bechtles selbstgefällig-konturloser Anti-Held entgegensteht (was wiederum die politische Brisanz unterstreicht).
Aber was heißt schon konturlos? Gary Victors Inspektor Azémar bezahlt seine klare Kante mit einer hochgradigen Alkoholabhängigkeit, womit er in Haitis von Voodoo und Raffgier gezeichneten „Schweinezeiten“ [Unionsverlag] noch gut bedient ist. Als seine Adoptivtochter in diesen Strudel gerät, kann er den ‚Dirty Harry in sich’ jedoch nicht länger ertränken und geht in die Offensive. / Eine Geisteshaltung, die Philippe Djians früheren Helden nicht fremd war. Heute dreht er den Spieß um. Filmproduzentin Michèle wird es nicht leid, über ihr gesamtes Umfeld herzuziehen, während sie nicht nur mit dem Mann ihrer Freundin, sondern auch mit ihrem Vergewaltiger ins Bett steigt. „Oh …“ [Diogenes] klingt grotesk, trifft aber des Pudels Kern, wenn wir unser eigenes Leben samt seiner Ideale und tatsächlichen Verhaltensweisen auf den Prüfstand stellen würden.
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