Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
30 1 2 3 4 5 6
7 8 9 10 11 12 13

12.606 Beiträge zu
3.829 Filmen im Forum

Gianfranco Calligarich
Foto: privat

Zerstörung eines Paradieses

02. September 2024

„Wie ein wilder Gott“ von Gianfranco Calligarich – Literatur 09/24

Ein wildes Leben, das das anderer Leute in den Schatten stellt oder zerstört – so beschreibt dieser Roman das Wirken des italienischen Afrikaforschers Vittorio Bottego (1860-1897). Der Erzähler ist ein Zeitgenosse und pensionierter Präsident der Geographischen Gesellschaft Italiens, in deren Auftrag Bottego mehrfach unterwegs war. In erster Linie geht es ihm um Bottegos Rolle in den kolonialistischen Bestrebungen Italiens Ende des 19. Jahrhunderts. Politik ist nicht Bottegos Hauptanliegen, aber er nutzt die Gunst der Stunde und integriert entsprechende Ziele in Expeditionen – die Versorgung des Landes mit „menschlichem Kapital“ etwa käme ihm gelegen. Wechselnde politische Stimmungen erschweren seine Finanzierungsbemühungen immer wieder, doch seine Entschiedenheit führt ihn stets aufs Neue nach Afrika, entschlossen, eher zu sterben als umzukehren. In Italien fühlt Bottego sich eingepfercht, empfindet Leere, ist einer von vielen Weißen. Bei den Expeditionen wird er zum Gott, der jegliche Befugnisse hat. So verhängt er für Desertion die Todesstrafe, ist doch Desertieren ein großer Faktor für das Scheitern einer Expedition. 

Der lakonische Ton des Erzählers steht im Kontrast zu solcher Brutalität und den verübten Verbrechen. Einmal in Afrika angekommen zieht Bottego seine Expeditionen teils ungeachtet politischer Entwicklungen durch. Er setzt sich über Anordnungen lokaler Autoritäten hinweg oder ist – abgeschnitten von Kommunikationswegen – gar nicht erst im Bilde über aktuelle Geschehnisse. „Die Geschichte der Kolonialisierung Afrikas war eine lange Abfolge grausamer Kapitel“, dieser Kommentar im Roman ist natürlich keine neue Feststellung, die Ignoranz der Weißen wird jedoch vielfach illustriert: Ein italienischer König bezeichnet einen afrikanischen Kaiser als „Affen“ und einen verdienten afrikanischen Expeditionsteilnehmer als „Maskottchen“. Das Abschlachten von Elefanten für Elfenbein soll Expeditionskosten decken. Kritische Fragen zeitgenössischer Kolonialismusgegner spielen eine untergeordnete Rolle. Die Expeditionen bedrohen die Integrität der betreffenden Gebiete und die Stille der Natur – das, was die „Entdecker“ kurz zuvor noch als Paradies bezeichneten.

Gianfranco Calligarich: Wie ein wilder Gott | Aus dem Italienischen von Karin Krieger | Zsolnay | 208 S. | 24 Euro

Melanie Schippling

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Neue Kinofilme

Mädchen Mädchen

Lesen Sie dazu auch:

Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25

Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25

Seelen-Klempner
Susann Pásztor liest in Leverkusen

Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25

Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25

Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25

Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25

Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25

Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25

Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25

Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25

Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25

Literatur.