„Äh, unser Präsident? Bundestag? Bundesrat?“ Fragezeichen über Fragezeichen und wir stecken mitten in den Vorbereitungen für den Hauptschulabschluss. Die Frage nach Namen erübrigt sich genauso wie die nach dem Wahlprinzip. Immerhin krieg ich nicht Donald Trump zu hören. Ein Christoph Butterwege ist im geistigen Speicher meiner Eleven hingegen nicht mal als Ordner angelegt. Warum auch, wenn ihn selbst das Bildungsbürgertum als Treppenwitz linker Präsidentschaftskandidaten abtut?! So ist das mit der geistigen Armut: Die einen bestimmen sie für sich selber und damit für die anderen gleich mit.
Dabei lohnt es sich bei dem Professor für Politikwissenschaft mal genau hinzuhören. Schließlich wird sein aktuelles Thema „Armut“ [Papyrossa] in nicht mehr allzu ferner Zukunft auch jene betreffen, die sich selbst nach oder eben durch den neoliberalen Hartz-IV-Keil auf der sicheren Seite wähnen, für die soziale Polarisierung nichts anderes als eine Gegenreaktion auf ‚marodierendes Schmarotzertum‘ ist und die prekäre Schieflagen in ihrer egozentrierten Beschränktheit als „dumm gelaufen“ einordnen. Umso wichtiger: mit Christoph Butterwegge der Entwicklung dieser verheerenden Geisteshaltung auf die Schliche zu kommen, statt unzählige Statistiken je nach Bedarf zu drehen und zu wenden.
Viel spannender finden meine Schüler allerdings den Fotobildband von Peter Lindbergh, der unter meinem Lehrmaterial hervorlugt. Zumindest auf den ersten Blick. „Saucool, die Bitch“ auf dem Cover. Ansonsten haben die Jungs wie Mädchen – analog zum Titel – eine völlig konträre Modevorstellung: Keine Hotpants, keine Highheels gleich No Sexappeal. Von wegen „Nichts ist so sexy wie Persönlichkeit“. Die scharfzügigen Schwarz-Weiß-Inszenierungen aus „A Different Vision of Fashion Photography“ [Taschen] lassen die Kids völlig kalt, während ich aufpassen muss, mich nicht in der raumgreifenden Aura der storyhaften Settings zu verlieren.
Als ich ihnen erkläre, wofür ich diese Bücher überhaupt mit mir rumschleppe, ernte ich erneut nur konsternierte Blicke. „Lesen“ ist ja schon abwegig, aber über das zu „schreiben“, was man gelesen hat?! Das muss man doch in der Schule. Entsprechend hirnrissig: die Idee, mit William Gibsons genialer (wenn auch zugegeben geklauter) Idee einer „Drittweltisierung der Vergangenheit“ aus „Peripherie“ [Tropen bei Klett-Cotta] bei ihnen so etwas wie Enthusiasmus oder zumindest Verständnis zu entfachen. Dafür gefällt ihnen die Vorstellung, wie in einem Game in der Zukunft zu materialisieren. Scheiß doch der Hund drauf, dass diese gerade dabei ist, rückwirkend die Gegenwart auszubeuten.
Aber mit Sozialkitsch à la Robin Hood brauche ich meinen ‚Ghettokiddz‘ nicht zu kommen. In ihrem Mikrokosmos herrscht die gleiche bittere Gesinnung wie im Rest der Welt. Und den eigenen Schmerz lindern die Drogen. Wie in Viktor Martinowitschs Provinzmetropole Minsk im chinesisch-russischen Unionsstaat, im gar nicht mehr so fernen Jahre 4741 des Xiàlì, in dem ein empathischer Kleindealer und ein philosophischer Junkie für ihr „Mova“ [Voland & Quist] durch die gesellschaftliche Hölle gehen. Ein gallig-sarkastisches Feuerwerk, dessen „nichtsubstanzielles Psychotropikum” in Form längst vergessener Verse aus einer verbotenen Sprache aufgrund ihrer ungeahnten Metaebene jeden LSD-Trip verblassen lässt…
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