Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
11 12 13 14 15 16 17
18 19 20 21 22 23 24

12.531 Beiträge zu
3.771 Filmen im Forum

Ulrike Draesner
Foto: Dominik Butzmann

Nebelkinder

04. April 2023

„Die Verwandelten“ von Ulrike Draesner – Textwelten 04/23

Was kann man tun, wenn die Eltern über die Vergangenheit nicht reden wollen? Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als sie literarisch zu erahnen. So beginnt die Gegenwart mit den ihr gegebenen Möglichkeiten die Vergangenheit zu erzählen. Ulrike Draesner hat sich in ihren Romanen „Schwitters“ und „Sprünge vom Rande der Welt“ den Phänomenen der Flucht und der Vertreibung gewidmet. Nun gehört das literarische Feld den Schicksalen der Frauen. Kinga, die zentrale Protagonistin ihres neuen Romans „Die Verwandelten“, welche als Anwältin für Erbrecht arbeitet, ist ein sogenanntes Nebelkind, geboren um das Jahr 1960 herum, wie Ulrike Draesner selbst. Eine Generation, die aus den Nachkommen jener Kriegskinder besteht, denen die Traumatisierung ein besonders tiefgreifendes Schweigen abverlangte.

Das unerwartete Erbe einer Wohnung in Wroclaw, dem ehemaligen Breslau, konfrontiert Kinga mit der Herkunft ihrer Mutter. Die war die Tochter einer Köchin, die ihrem Dienstherren wie selbstverständlich zur Verfügung zu stehen hatte. Als sie schwanger wird, kommt die Herrin des Hauses auf die Idee, das Mädchen im Lebensborn, der rassistischen Zuchtstätte der Nationalsozialisten, unterzubringen. Der Roman faltet sich auf in die Stimmen von Müttern und Töchtern, wobei die polnische Verwandtschaft in Gegenwart und Vergangenheit ebenfalls zu Wort kommt. Ulrike Draesner ist eine souveräne Erzählerin, welche die Fäden ihres Stoffs stets im Blick behält.

Dieser Blick öffnet uns die Welt der Frauen, über deren Leben im Haushalt, in den Heimen und in den Ehen hinweg gesehen wurde. Missbrauch und Vergewaltigung lassen verstummen, aber Ulrike Draesner weicht diesen Themen nicht aus. Sie demonstriert, dass Gewalt nicht literarisch reinszeniert werden muss, indem sie eine Ahnung von der zerstörerische Resonanz gibt, die sie im Wesen der Frauen anrichtet. Der literarische Geniestreich dieses Romans besteht in Draesners Fähigkeit, in einem ironischen, fast freundlich zu nennenden Erzählton von Deutschlands dunkler Vergangenheit zu berichten. Das funktioniert, weil sie immer aus der dichten Gefühlswelt der Frauen heraus erzählt.

Ulrike Draesner: Die Verwandelten | Penguin Verlag | 600 Seiten | 26 €

Thomas Linden

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Wonka

Lesen Sie dazu auch:

Unter der Oberfläche
„Verborgen“ von Cori Doerrfeld

Wenn die Blätter fallen
„Im Herbstwald“ von Daniela Kulot – Vorlesung 11/23

Den Essay zum Leben erwecken
7. auftakt festival in Köln – Festival 11/23

Tierischer Gruselspaß
„Die Schule der magischen Tiere: Ach du Schreck!“ von Margit Auer

Die Evolutionsgeschichte in Bildern
„Mensch!“ von Susan Schädlich und Michael Stang – Vorlesung 10/23

Comic und Film Hand in Hand
Von, für und über Erwachsene – ComicKultur 10/23

Auf der Suche
„Nichts Besonderes“ von Nicole Flattery – Klartext 10/23

Im Brackwasser der Geschichte
„Die Postkarte“ von Anne Berest – Textwelten 10/23

Persische Poesie
„Rumi – Dichter der Liebe“ von Rashin Kheiriye – Vorlesung 09/23

Körperbewusstsein und Bauchgefühl stärken
„Mein Körper gehört mir – auch im Sport!“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 09/23

Eine Stimme für die Frauen
Shikiba Babori im Forum der Volkshochschule – Lesung 09/23

Selbstliebe statt Schönheitsideale
„Flauschig Mauschig“ von Nora Burgard-Arp – Vorlesung 09/23

Literatur.

Hier erscheint die Aufforderung!