11. September 2001, eine Stadt im Ausnahmezustand: Zwei Flugzeuge krachen nacheinander in das World Trade Center in New York, ein weiteres ins Pentagon. Die 2019 verstorbene Autorin Ellis Avery, die damals aus ihrem Fenster im Village direkt auf die Zwillingstürme blicken konnte, dokumentierte in kurzen Kapiteln die eigenen Gefühle und Gedanken nach dem Terrorakt.
„Weshalb heute ein Buch über 9/11 lesen?“, werden sich manche fragen. Die Antwort darauf fällt nach der Lektüre von „Die Tage des Rauchs“ erstaunlich leicht: Denn die aus persönlicher Perspektive geschilderte Wahrnehmung des Attentats beschreibt zugleich universell übertragbare Stimmungen von Menschen angesichts einer unbegreiflichen Ausnahmesituation – den Schock, die Ungewissheit, die Sorge um Mitmenschen, die Wut und Trauer und nicht zuletzt auch den Zustand des Betäubt-Seins, die sinnzerfressende Apathie.
Die Schilderung von Alltagsdetails und trivial erscheinender Anekdoten neben dem sich gleichzeitig abspielenden Horrorszenario illustriert beispielhaft, wie die menschliche Psyche funktioniert. Im Unvorstellbaren klammert sich diese an gewohnte Strukturen, die als Anker dienen, um nicht in den Wahnsinn abzurutschen. Nach und nach nehmen die Menschen wieder ihre Routinen auf, während das einschneidende Ereignis alles überschattet. Das lässt sich auch auf unsere Gegenwart übertragen, auf einen Zustand, der uns seit bald zwei Jahren im Würgegriff hält – zwar kein Attentat, jedoch eine in ihrer Gefährlichkeit stets präsente „Naturkatastrophe in Zeitlupe“.
Auch zwanzig Jahre später entfaltet Ellis Averys Text seine eindringliche Wirkung und vergegenwärtigt die unmittelbaren Dissonanzen rund um diese Zäsur, sowohl für Amerikas (Selbst-)Bewusstsein als auch für das weltpolitische Geschehen – sprachlich knapp und prägnant. Kaum vorstellbar, dass die Autorin damals Schwierigkeiten hatte, einen Verlag für ihr fesselndes kleines Buch zu finden. Als Grund hierfür nannten die Verlage aber offenbar nicht, dass die Thematik um das gerade passierte Attentat eine größere Leserschaft abschrecken würde, sondern die implizit mitbeschriebene lesbische Beziehung zwischen ihr und Sharon Marcus. Letztere steuerte das erhellende Nachwort bei, das Lust bereitet, mehr von dieser interessanten Autorin zu entdecken.
Ellis Avery: Die Tage des Rauchs | Aus dem am. Englisch von Alex Stern | Lilienfeld Verlag | 152 S. | 18 €
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