In den USA ist Dennis Lehane ein Star. Seine Bestseller „Mystic River“ und „Shutter Island“ wurden von Hollywood erfolgreich verfilmt und hierzulande gewann er schon dreimal den Deutschen Krimipreis. Und dennoch, erst mit seinem neuen Roman „In der Nacht“, den der Diogenes Verlag jetzt in einer Aufmachung präsentiert, die an Scott Fitzgeralds „Great Gasby“ erinnert, wird der Absatz von Lehanes Romanen so richtig durch die Decke gehen. Im Ullstein Verlag wird man sich die Hände reiben, angesichts der zu erwartende Nachfrage, die nach den alten Lehane-Titeln einsetzen wird. Denn die elegante Aufmachung von Diogenes demonstriert nun unmissverständlich, dass hier ein Krimiautor in die Liga der literarisch anerkannten Autoren aufgenommen wird.
Lehane bietet großes Kino aus den Tagen der Alkoholprohibition, das den Vergleich mit dem „Paten“ nicht zu scheuen braucht. Der kleine Joe Coughlin, Spross eines hochrangigen irischen Polizeioffiziers in Boston, entscheidet sich für den Einstieg in eine Gangsterkarriere. Mit seinen italienischen Kumpels überfällt er die falsche Flüsterkneipe. Das gefällt zwar den ortsansässigen Bossen nicht, aber Joe begegnet bei diesem Raubzug Emma Gould, einem schönen, ziemlich coolen Mädchen, das gerade die Favoritin des mächtigsten Gangsters der Stadt ist. Auch wenn es zwischen Emma und Joe mächtig funkt, ist das erst der Anfang einer komplizierten Liebesgeschichte, die der Motor zur Ganovenkarriere von Joe Coughlin darstellt. Dennis Lehane weiß, wie man Romane schreibt, von denen Leser nicht mehr lassen können, sobald sie die erste Seite verschlungen haben. Joe befindet sich in der Eröffnungsszene nämlich gerade auf einem Boot, welches in den Golf von Mexiko hinausfährt. Seine Füße stecken in einem Zementblock und die zwölf Handlanger seines ärgsten Feindes warten ungeduldig darauf, dass man endlich weit genug hinausgefahren ist, um Joe über Bord zu werfen. In diesem Moment erinnert sich der Gangsterfürst an das erste Treffen mit Emma und die knapp 600-seitige Story setzt ein.
Wir erfahren, wie Joe verraten wird, wie er in der Hölle des Gefängnisses landet, wie er in Florida zum Herrscher der Unterwelt wird, der den Alkoholschmuggel mit Kuba organisiert und Lehane webt zudem eine zweite Liebesgeschichte in sein opulentes Gangsterpanorama ein. Der Amerikaner weiß, wann die Spannung angezogen werden muss und wann er sich auf den Charme seiner Schauplätze konzentrieren kann. Jedes scheinbar achtlos erwähnte Detail fügt sich später in das Gesamtbild ein. Es fehlt nicht an Sex und Gewalt und psychologische Finesse gehört auch zum Repertoire des 48-jährigen Autors. Immer wieder stehen wir an der Seite von Joe Coughlin, wenn Lehane ihn scheinbar aussichtslosen Prüfungen gegenüberstellt. Wie findet Joe zum Beispiel Emma in einem Hotel, welches von feindlichen Gangstern kontrolliert wird? Wie überlebt er den grauenvollen Knast und wie besteht er die sadistischen Torturen der Mafiabosse? Und wir wissen ja, dass er gerade mit den Füßen im Zement auf die hohe See geschafft wird.
Großartig erzählt Dennis Lehane sein sentimentales Gangstermärchen, dessen Protagonisten er uns als anständigen Kerl serviert, der durch die Unterwelt marschiert und dabei moralisch integer bleibt. Mit der Realität hat das nicht unbedingt etwas zu tun, aber in die Genealogie der Kriminalliteratur ist mit „In der Nacht“ soeben ein neuer Klassiker eingegangen.
Dennis Lehane: In der Nacht. Deutsch von Sky Nonhoff. Diogenes Verlag, 586 S., 22,90 €
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