Erlebnisse, die uns nicht berühren, erinnern wir nicht. Im Grunde sind sie gar keine Erlebnisse und werden – vielleicht zum Glück – gleich wieder vergessen. Im Umkehrschluss heißt das: wir erinnern nur das, womit wir nicht fertig geworden sind. Ja, mitunter kann man sagen, dass in der Erinnerung stets ein mehr oder weniger pathologischer Anteil mitschwingt. Was sagt dieser Umstand über Schriftsteller aus? Annie Ernaux ist da ein geradezu klassischer Fall. Hat sie doch mit ihrem Buch „Die Jahre“ einen Erinnerungsbogen von gut 60 Jahren geliefert, der auf geniale Weise individuelle Geschichte mit kollektiver Erinnerung verbindet. Tatsächlich hat sie uns unsere europäische Vergangenheit bewahrt, indem sie dokumentierte, wie die Menschen gedacht und vor allem gefühlt haben, als die Beatles ihre ersten Songs schrieben, als man 1968 auf die Straße ging, als sich die Abtreibungsdebatte einsetzte, als die Mauer fiel oder in Manhattan die Türme einstürzten. Sie hat uns das gegeben, was wir gespürt haben, aber nicht zu sagen vermochten. Das ist die Aufgabe der Literatur. Erinnerung ist der Versuch, das zu verstehen, was man in dem Moment, in dem es geschieht, nicht begreifen kann, weil einem der nötige Abstand fehlt.
Schreibend wird das Material, das gelebte Leben, verarbeitet und löst sich dann im Idealfall auf. Wer aber nun denkt, Annie Ernaux hätte mit dem epochalen Text „Die Jahre“ ihr Werk getan, sieht sich getäuscht. Es gibt ein Erlebnis, dass sich allen Versuchen, es hinter sich zu lassen, widersetzte. Da es der heute 78-jährigen Französin mit 18 Jahren zustieß, hat es sie ein ganzes Leben gequält. Alle schreibenden Ansätze schlugen fehl, ein Scheitern, das sie als weibliche Person prägen aber nicht vernichten sollte. Ihr neues Buch „Erinnerung eines Mädchens“, in dem es ihr nun doch gelang, ist auch deshalb ein so besonderes Kunstwerk, weil Annie Ernaux darin die Schwierigkeiten des Erzählens so klar und erkenntnissatt zu beschreiben vermag. Nichts brennt sich tiefer in die Erinnerung ein, wie die Scham. Dass sich Scham psychologisch, soziologisch und wer weiß wie sonst noch erklären lässt, ändert nichts an ihrer Intensität. „Nur weil man die eigene Scham versteht, kann man sie noch lange nicht überwinden“, sagt Annie Ernaux.
Hintergrund ist die erste Begegnung mit der eigenen Sexualität. Das behütet aufgewachsene Mädchen nimmt 1958 nach bestandenem Abitur einen Job als Betreuerin eines Feriencamps in der Normandie an. Gleich am ersten Abend wird sie vom ungestümen Verlangen des jugendlichen Gruppenleiters überwältigt. Traumatisch erweist sich nicht das Ereignis, das sich in der Grauzone zwischen Vergewaltigung, Missbrauch oder schlechtem Sex abspielt. Zum Trauma wird das Erlebnis erst durch die Reaktion der Gemeinschaft, also der anderen Betreuer und Betreuerinnen, die es von Annie erfahren, und ihm eine vernichtende Bedeutung zuschreiben. Mithu Sanyal hat diesen Zusammenhang genau in ihrem Essay „Vergewaltigung“ beschrieben. Während sie schnell als „kleine Nutte“ abgestempelt wird, setzt Annie zugleich alles auf die Zugehörigkeit zu der Gruppe, die sie verspottet, und um akzeptiert zu werden, verspottet sie selbst andere Mitglieder.
Annie Ernaux beschreibt, wie das Echo dieser Ereignisse durch ihr Leben hallt. Was dieses Buch zu einer faszinierenden Lektion im Umgang mit dem Phänomen der Erinnerung macht, ist ihr sicheres Balancieren zwischen Distanz zu dem Mädchen von einst und der Loyalität zu ihm. Annie Ernaux zieht sich nicht auf eine intellektuelle Analyse zurück, sondern liefert uns den bitteren Geschmack der Epoche und die heillose Ambivalenz, in die das Mädchen durch die Bigotterie seiner Zeit gerät. Und weil Annie Ernaux diese Mechanismen so genau in ihrem Material der Vergangenheit bearbeitet, wird erkennbar, wie nah sie auch heute noch unter der Oberfläche vermeintlicher Aufgeklärtheit existieren.
Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens | Deutsch von Sonja Finck | Suhrkamp | 167 S. | 20 €
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