Es ist unbestreitbar, dass es die Liebe auf den ersten Blick gibt. Die Weltliteratur liefert Beweise ohne Ende. Aber gibt es auch Hass auf den ersten Blick? Das wäre dann eine Anti-Liebesgeschichte, und von der erzählt André Dhôtel in seinem Roman „Bernard der Faulpelz“. Dhôtel ist in Deutschland vollkommen unbekannt geblieben. Dabei umfasst sein Werk etwa 50 Romane. 1900 geboren, fristete er ein Leben im Schuldienst. Erst mit 55 Jahren erhielt Dhôtel mit dem Prix Femina in Frankreich die Aufmerksamkeit, die seinem Werk gebührt. 1991 starb er in jener Region in den Ardennen, in der er auch aufgewachsen war.
Ein von außen betrachtet ereignisarmes Leben und Werk. Aber auch in dieser Einschätzung kann man sich täuschen, wie jetzt Peter Handke in seinem Vorwort „Bernard der Faulpelz“ beteuert. Schon die Tatsache, dass Anne Weber, die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises, den Roman übersetzt hat, lässt aufhorchen. Unaufgeregt beginnt der Roman mit dem Blick auf den Büroalltag des Angestellten Bernard Casmins. Der lebt in einer Provinzstadt, die sich auf faszinierende Weise aus Versatzstücken diverser französischer Regionen zusammensetzt. Provinz, die aber keineswegs langweilig wirkt. Es gibt sogar eine Art „bessere Gesellschaft“, in die Bernard nach dem Willen seiner Cousine einheiraten soll. Er selbst zeigt wenig Ehrgeiz auf diesem Feld. Und dann begegnet ihm Estelle Jarraudet, die Tochter einer alteingesessenen Familie, mit der er eigentlich verkuppelt werden sollte. Sofort lodert Hass in ihm auf, und in ihr ebenfalls. Tatsächlich verhalten sich Liebe und Hass mitunter wie zwei Seiten einer Medaille.
Hass als eine Art verschmähte Liebe scheint am Werk zu sein. Eine griffige Erklärung weiß André Dhôtel jedoch zu verweigern. Vielmehr beginnen die beiden die Existenz des jeweils anderen zu demontieren. Dabei kommen sie sich auf geheimnisvolle Weise immer näher. Sanftmut und Leidenschaft gehen eine unnachahmliche Verbindung ein. Der Roman bietet seiner Leserschaft ein plausibles Finale. Dennoch besteht sein Genuss vor allem in einer Lektüre, die einem die Atmosphäre dieser Liebesgeschichte als unendlich vielseitiges Spiel literarischer Aromen offeriert.
André Dhôtel: Bernard der Faulpelz | Aus dem Französischen von Anne Weber | Matthes & Seitz | 288 S. | 24 €
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