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Adrian Kasnitz
Foto: Thomas Dahl

„Muss ich erbarmungslos alles offenbaren?“

25. August 2021

Verleger Adrian Kasnitz über Literatur in Köln – Interview 09/21

Schriftsteller, Verleger und Ex-Lokalpolitiker Adrian Kasnitz äußert sich im choices-Gespräch zum Stellenwert von Worten und Bildnissen, die Erinnerung an Langeweile, schonungsloses Erzählen sowie die Mindestseitenzahl von Büchern

choices: Adrian, wie hält man es als Künstler in einer Stadt aus, die sich ständig an ihrer eingebildeten Weltoffenheit, ihrem besoffenen Humor und ihrer scheinheiligen Toleranz berauscht? Wäre es für einen zeitkritischen Autor angenehmer, in Wuppertal oder Paderborn zu arbeiten?

Adrian Kasnitz: Ja. Nein. Der Grund, warum es hier auszuhalten ist, liegt an meiner Frau, meiner Familie und natürlich meinen Freunden. Letztendlich ist Köln eigentlich eine Katastrophe, was das Künstlerische oder, konkreter, das Literarische betrifft, gerade als Lyriker, wo es hier im Gegensatz zu anderen Städten keine Struktur gibt. Andererseits kannst du überall ein Umfeld dafür schaffen, um zu arbeiten. Natürlich könnte man auch in Paderborn arbeiten. Letztendlich ist es okay, den Anspruch zu haben, weltoffen und tolerant zu sein, wenn es denn auch so wäre. Das sieht man hier aber nicht. Ich musste zum Beispiel immer wieder erklären, was die Parasitenpresse ist oder warum es uns gibt. In Berlin muss ich das nicht erklären. Es wird nicht in Frage gestellt. Du musst dich hier permanent erklären. In Köln gibt es kein überregionales Feuilleton. Man nimmt nicht zur Kenntnis, was hier passiert.

Gibt es für dich eine Definition von Schriftsteller oder gar Literatur? Ich frage das, weil ich von Menschen gelesen habe, die das klar abgrenzen.

Ich bin da sehr offen. Schreiben ist ein toller Impuls, bei dem es darum geht, sich selbst zu reflektieren. Ein zweiter Schritt ist, das auch anderen zeigen zu wollen. Das so abzugrenzen und zu sagen: „Du bist aber gar kein richtiger Schriftsteller“, kann man machen. Ich finde das aber nicht hilfreich und zudem abgrenzend. Ich mag die fließenden Übergänge zwischen Künstler und Publikum. Oftmals setzt sich das Publikum aus Künstlern zusammen. Grundsätzlich mag ich diese hochkulturellen Abgrenzungen nicht, die besagen: „Wir sind die Besonderen, weil wir veröffentlichen“, gemäß: „Ich darf mich Schriftsteller nennen, weil ich ein Buch herausgebracht habe. Ein Buch muss mindestens 49 Seiten haben und dieses Kriterium habe ich erfüllt.“

Was war denn das erste Buch, das dich in deinen Bann gezogen hat?

Ich habe sehr spät angefangen zu lesen und habe als Kind gar nicht gelesen. Ich wollte draußen sein oder Filme gucken. Lesen hat mich nicht interessiert. Das passierte erst bei einem Schüleraustausch in Dänemark. Es hat geregnet und mir war langweilig. Da habe ich mit Kurzgeschichten von Siegried Lenz angefangen. Schließlich kam Hemingway dazu.

Wie gefallen deinen Eltern die Gedichte von dir? Gab es (gibt es) Vorbehalte, diese zu offenbaren und bekommst du da Feedback?

Nein. Wenn ich meinen Eltern etwas zeige oder sage, dass etwas veröffentlicht wird, ist das immer so ein Ereignis. Das möchte ich gar nicht. Die sollen mal schön ihre Ruhe haben. Ich gehe nicht mehr mit jedem neuen Buch zu denen. Ich muss schon das Gefühl haben, dass es sie auch anspricht. Es gab eine Situation bei der Verleihung des Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendiums vor einigen Jahren, wo meine Eltern zur Preisverleihung kamen. Es war klar, dass ich eine versaute, sexuell explizite Geschichte lesen werde und habe meine Eltern vorher zur Seite genommen, um sie darauf vorzubereiten. Meine Mutter meinte nur: „Na wenn du so dein Geld verdienst, ist das in Ordnung.“

Gerade in der Lyrik bietet sich die Möglichkeit zum unmittelbarsten Ausdruck und der Verarbeitung unterschiedlichster Themen. Wie gehst du beispielsweise mit der Begrifflichkeit „Scham“ oder „Angst“ in deinem Schaffen um?

Eigentlich habe ich relativ wenig Angst und Scham. Das Erzählen ist ja sehr ins Biographische gerückt, auf der Suche nach Identität. Da stößt man immer wieder auf das eigene Umfeld wie Familie und Freunde. Das ist schwierig. Ich stelle mir immer die Frage, wie weit kann ich da gehen? Was macht es mit uns? Wie wichtig ist es für die Geschichte, wann wird es vielleicht auch verletzend? Muss ich erbarmungslos alles offenbaren? Was passiert mit Freundschaften oder der Familie, wenn man das tut?

Mein Geschichtsprofessor an der Uni sagte einmal in einer Vorlesung in Bezug auf die Seminar-Literaturliste, „Sie müssen nur ein Buch lesen, die Bibel. Dort stehen alle Stories. Es wird nichts ausgelassen.“ In dieser Hinsicht dachte ich an einen sehr pathetischen Satz im Johannes- Evangelium des Neuen Testament: „Im Anfang war das Wort“. Was glaubst du, war zuerst da, das Bild oder das Wort?

Zuerst kommt die Reflektion, das Wort kommt später. Bilder haben ein enormes Potenzial für mein Schreiben und dessen Auslösung. Das Wort hat aber schon die Macht, die eigene Geschichte zu erzählen und vielleicht aus einer Opferrolle herauszukommen. Ich kenne eine Autorin, die über ihre Krankheit schreibt. Sie macht klar, dass sie nicht nur ein zu behandelnder Körper ist. Das Wort hat hier eine ganz enorme Kraft.

Adrian, ich kann den Weg des reflektierenden Menschen vom Beobachter zum Autor sehr gut nachvollziehen, aber wie wird man Verleger? Hast du dafür eine Berufsbeschreibung?

Nee. Ich bin kein Unternehmer. Ich bin ein Dichter oder Schriftsteller, der Sachen verlegt. Das hat mehr mit einem Label wie im Musikgeschäft zu tun. Ich möchte die Kontrolle über meine Arbeiten behalten und dasselbe auch den Künstlern zugestehen, die hier veröffentlichen. Profit steht bei uns weniger im Vordergrund. Wir sind natürlich nicht im Nonprofitbereich angesiedelt. Aber es sollen möglichst viele Leute davon profitieren.

Dein Verlag „Parasitenpresse“ konzentriert sich auf zeitgenössische Literatur, insbesondere Lyrik und kurze, philosophisch geprägte Erzählungen, die den Zeitgeist in oftmals bizarr-komischen Innenansichten mit progressiv anmutenden Intonierungen widerspiegeln. Täusche ich mich, oder habt ihr eine Antipathie gegen die Romantik?

Gegen die Romantik? Ich würde eher sagen, wir interessieren uns für urbane Lyrik, Prosa vielleicht auch. Das ist schon unser Hauptthema. Natürlich gibt es auch Texte über die Liebe, aber ein Band Liebesgedichte kann ich mir schlecht vorstellen. Wir stehen vielleicht eher für den Magischen Realismus. Das kann über die eigene Vorstellungswelt hinausgehen, was ich besser finde, als romantisch verträumt zu bleiben.

Stets wird die Freiheit der Künste beschworen. Kann Kunst oder können die Gedanken frei sein?

Freiheit ist immer relativ, weil man sich im sozialen Raum bewegt. Sobald es andere verletzt, hört die Freiheit auf. Wir sind in einer Zeit, in der man sich mehr Gedanken über die Auswirkungen unserer Handlungen macht. Die Frage lautet mitunter, was darf Kunst? Ich denke, Kunst darf nicht alles aber vieles.

Welche Freiheiten gewährst du den Künstlern in deinem Verlag?

Letztendlich bin ich auch Lektor und gehe danach, was ich gut finde. Wir sind vielleicht nicht auf gleicher Augenhöhe, weil ich zuletzt der Entscheider bin, aber man tauscht sich aus, redet viel und geht Möglichkeiten durch.

Die Parasitenpresse erscheint mir als experimentelle Plattform fernab der Konventionen. Können diesbezüglich Zahlen oder Lauten in der Literatur der gleiche Raum wie Buchstaben zugestanden werden?

Auf jeden Fall. Natürlich bin ich ein Leser und mag es zu lesen. Aber wir haben einige Sachen, die von der Performance oder dem Zeichenspiel kommen. Das können auch Laute oder Zahlen sein.

Du warst sechs Jahre lang Bezirksvertreter für Deine Freunde im Parlament der Innenstadt. Welche Bilanz ziehst du aus dieser ehrenamtlichen Tätigkeit?

Das war eine gute und sehr spannende Zeit. Es gab damals günstige Mehrheiten mit Grünen, Linken und GUT. Wir haben viele Dinge angestoßen, beispielsweise zur Verkehrspolitik oder der Aufteilung Stadträumen. Ich habe viele Menschen in den Veedeln und deren Probleme kennen gelernt. Auch die Erfahrung der Zusammenarbeit mit den Kollegen war wertvoll. Das Beste an den sechs Jahren war aber, den Absprung zu schaffen.

Sind die diesbezüglichen Erfahrungen in deine literarischen Texte eingeflossen?

Das weniger. Wenn, dann in Bezug auf das Urbane.

„Das Festival steht für gute Literatur auf hohem Niveau in verschiedenen Sprachen“

Europäisches Literaturfestival Köln-Kalk, Foto: Amer Kashma

Du bist zudem Mitorganisator des Europäischen Literaturfestival Köln-Kalk (ELK). Im September startet die dritte Auflage. Seht ihr euch als Alternative zur Lit.Cologne?

Nein. Wir sehen uns aber als besonderes Festival, das es nicht so häufig gibt. Es soll viele Menschen einbeziehen, die nicht selbstverständlich zu Lesungen gehen. Das Festival steht für gute Literatur auf hohem Niveau in verschiedenen Sprachen, die alle in Kalk zuhause sind. Als wir anfingen, lagen fast alle Literaturveranstaltungen im Linksrheinischen. Dabei haben wir auf der Schäl Sick Bezirke, die einwohnermäßig als Großstadt gelten. Es kann nicht sein, dass der Fokus auf die Literatur in Köln geografisch in solch einem Maße reduziert wird.

Könnte der Event auch in Lindenthal oder im Villenviertel Köln-Hahnwald stattfinden?

Ich würde sagen, nein.

Kommen wir nochmals zur Sprache und deren Mikrokosmos. Gibt es Verben, denen der Zugang auf dein weißes Papier verwehrt ist?

Eigentlich nicht. Es ist natürlich immer ein Kampf gegen die kleinen Füllwörter wie „eigentlich“ oder „vielleicht“. Verben kann man nicht genug haben. Jedes Wort hat seine Berechtigung.

Zum Abschluss bitte ich um deine Assoziation zum Begriff „Mensch“.

Mensch? Puh. Das kann alles sein. Ein gutes Wort, um Gender- oder Identitätsfragen nicht auszuschließen und viele Leute anzusprechen. Dafür ist „Mensch“ ein Superwort.

Europäisches Literaturfestival Köln-Kalk | 3. - 5.9. | Ottmar-Pohl-Platz | www.elk-festival.com

Interview: Thomas Dahl

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