Im Rahmen der nunmehr 19. lit.Cologne fand in diesem Jahr etwas Besonderes statt: eine Therapiesitzung in einer Kirche. Der Andrang war groß. Offenbar ist der Bedarf an Therapie groß. Dann betritt die französische Autorin Adélaïde Bon die Bühne und lächelt. Neben ihr sitzen Schauspielerin Nina Kunzendorf und Autorin und Literaturkritikerin Olga Mannheimer, die die Lesung moderiert. Der 1981 geborenen Pariserin geschah als Neunjährige etwas Unsägliches und gleichzeitig Universelles: Sie wurde im Hausflur von einem Fremden sexuell missbraucht. Jahrelang verdeckt sie dieses Ereignis und den daraus resultierenden Hass auf sich selbst. Sie macht weiter, wird Schauspielerin. Denn auf der Bühne kann sie eine andere spielen. Doch die Leere in ihr ist zu einnehmend, die destruktive Energie zu groß. So schreibt Bon: „Sie lächelt. Sie ist lieb. Dabei ist sie eigentlich tot.“
Fortan leidet sie an Angstzuständen und Panikattacken. An Wut und dem Gefühl zu ersticken. Durchlebt Albträume, fügt sich Schmerzen zu, um sich zu spüren. Sie befindet sich einem Kriegszustand, von dem sie nichts weiß. Ständig wird sie in den Körper eines Kindes zurückversetzt. Zudem plagen sie chronische Kieferschmerzen, weil ein Fremder ihr einst seinen Penis in den Mund rammte, als sie ein Kind war. Seitdem leidet Bon an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), wie sie später feststellt, für die sie zunächst keine Sprache fand.
In ihrem schonungslosen autobiografischen Buch über die fremdbestimmte Gewalterfahrung in ihrer Kindheit mit dem Titel „Das Mädchen auf dem Eisfeld“ (2018 in Frankreich; dt. Übersetzung 2019 bei Hanser) findet sie schließlich sehr wohl Worte. Sogar dichterische: „Ihr ganzer Körper ist eine einzige sich drehende und einstürzende Sandwüste.“ Mehr noch: Sie hat einen Teil von sich abgespalten. Sich selbst entfremdet. Im Unterbewussten. Ein totes Gebiet, das sie bildhaft „Eisfeld“ nennt. Eines, das ständig droht, sich zu entladen. Es ist in der Amygdala abgekapselt, einem Teil des Gehirns, der für das Empfinden von Gefühlen verantwortlich ist, insbesondere von Furcht. Die Amygdala speichert die Erinnerung aber nur indirekt ab, wie Olga Mannheimer dem Publikum erklärt. Somit ist das Problem bei einem Trauma viel größer, ist es doch gleichzeitig die Schwierigkeit, sich an das Geschehene rational zu erinnern und es richtig einzuordnen.
Erst seit den 60er/70er Jahren wird die Posttraumatische Belastungsstörung tatsächlich als Krankheit in Therapien aufgegriffen und behandelt, klärt Mannheimer das ergriffene Publikum auf. Bon selber benutzt für dieses Trauma die Metapher der Medusa. Sie wurde vergewaltigt und aufgrund ihrer anschließenden Hässlichkeit aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, also auch noch bestraft.
Mannheimer verweist auf einen doppelten Verlust: den des Bodens unter den Worten, der damit einhergehe, dass man selbst den Boden unter den Füßen verliert. Die anfangs verstummte Adélaïde Bon hat ihre Sprache und den Boden unter den Füßen wiedergefunden, wenngleich jener manchmal noch wackelt. Die sexuelle Gewalterfahrung in ihrer Kindheit mag einen zerstörerischen Einfluss auf ihr Leben gehabt haben. Andererseits hat sie eine starke Kraft in ihr losgetreten, darüber zu schreiben. Und Bon hat durch den Vorfall etwas gelernt: zum Beispiel dass die ungewollte Penetration in den Mund, wie es bei ihr geschah, sehr wohl eine Vergewaltigung ist und nicht nur unter unsittliche Berührung fällt. Der Täter, der zahlreiche Mädchen missbrauchte, wurde gefasst. Am Ende der ausverkauften Veranstaltung ist es totenstill in der Kulturkirche, bevor schließlich tosender Applaus einsetzt.
Adélaïde Bon: Ein Buch wie eine Therapie | Hanser | 240 S. | 22 €
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