Etwas fehlt: Vokale und Hexe. Doch der Wald ist da: dunkel, bedrohlich, unendlich, atemberaubend. Darin zwei Menschen in steter Umarmung. Die Idee von Einheit. Liebkosend, streitend, ringend. „Das ist nicht meine Schwester!“, sagt HNSL und erntet strenge Blicke von GRTL. Dies ist kein Märchen. Nirgendwo eine gebückte alte Frau, die unheilvoll den Ofen schürt. Nur eine Situation, die Reaktionen erzeugt. Die Konstellation heißt „Leben“, vielmehr „Zusammenleben“. Wie soll das gehen?
Abseits familiärer Verflechtungen beschwören Bianca Sere Pulungan und Francesco D’Amelio die Ver- und Gebundenheit zwischen den Geschöpfen als betörendes, manchmal auch schmerzhaftes Tanztheater. In einer verführerischen waldblütenwehenden Inszenierung spielen Licht und Schatten eine Hauptrolle auf dem Irrweg durch die Wildnis, die nur Ein- aber keine Ausgänge kennt. Neben der Körpersprache bedienen sich die Protagonisten einer Phantasiegrammatik, die alle Kontinente umspannt. Dass die Dialoge dennoch verständlich bleiben, liegt an den entblößten, unmissverständlich rufenden Seelen auf der Suche nach mehr Licht. So anmutig, wie die vermeintlichen Geschwister im pulsierenden Soundtrack Körper an Körper agieren, wird die Harmonie durch permanente Brüche innerhalb der Choreographie bewusst gestört, verhindert. Hier wirken Anziehung und Abstoßung als universales Prinzip der Bewegung. Reibung erzeugt Fortschritt im Sinne notwendiger Kollisionen. Individuen verschmelzen, um neue Daseinsformen zu kreiieren.
Gemäß seiner aktuellen Leitgedanken übertritt das Schauspiel die Grenzen der Bauturm-Bühne und erbittet den Kontakt zum Publikum. Auch jenes ist, wissend oder unwissend, auf verschlungenen Waldpfaden unterwegs, freut sich über unvermutete Lichtungen und verliert sich wieder in der finsteren Materie, die den Kosmos füllt. Leuchtsignale weisen die Richtung zu temporären Zufluchtstätten oder markieren wie ein Ariadnefaden die Wanderung durch ewige Nacht. Mit „HNSL/GRTL“ lädt Regisseurin Julia Mota Carvalho und ihr Ensemble zu einem menschlichen Himmelssturz mit Fallschirm ein. Dabei fordert die Gravitation jedoch ihren brachialen Tribut. Diesen Aufprall mit möglicherweise verheerenden Auswirkungen auf EMPFINDSAMKEIT/GENICK aufzuzeigen, ist mehr denn je ein Gebot des zeitgenössischen Theaters.
HNSL/GRTL. Eine Umarmung | 9. & 10.12. 20 Uhr | Theater im Bauturm | www.theaterimbauturm.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Mein Bild für den Bauturm ist der Fliegenpilz“
Das Leitungsteam des Theaters im Bauturm zu dessen 40-jährigem Bestehen – Interview 10/23
Verspätete Liebe
„Die Legende von Paul und Paula“ in Bonn – Theater am Rhein 05/24
Erschreckend heiter
„Hexe – Heldin – Herrenwitz“ am TiB – Theater am Rhein 05/24
Schöpfung ohne Schöpfer
Max Fischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 05/24
Zeit des Werdens
„Mädchenschrift“ am Comedia – Theater am Rhein 05/24
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24
Wo ist Ich?
„Fleischmaschine“ am FWT – Theater am Rhein 02/24
Falle der Manipulation
„Das politische Theater“ am OT – Theater am Rhein 02/24
Wiederholungsschleife
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/24
Übung in Demokratie
„Fulldemo.cracy“ am Studio Trafique – Theater am Rhein 01/24
Emotionale Abivalenz
„Sohn meines Vaters“ in Köln – Theater am Rhein 01/24
Radikaler Protest
„Ein Mensch ist keine Fackel“ in der Orangerie – Theater am Rhein 01/24
Was ist hinter der Tür?
„Die Wellen der Nacht …“ in der Orangerie – Theater am Rhein 12/23
Welt ohne Männer
„Bum Bum Bang“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 12/23
Weiter mit der Show
„Von Käfern und Menschen“ am TiB – Theater am Rhein 11/23
Ende der Zivilisation
„Eigentum“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 11/23
Menschliche Abgründe
„Mister Paradise“ am FWT – Theater am Rhein 11/23
Komik der Apokalypse
„Die Matrix“ im Theater der Keller – Theater am Rhein 10/23
Trauma und Identität
„Mein Vater war König David“ in Köln – Theater am Rhein 10/23
Waffe Mensch
nö Theater in der Stadthalle Köln – Theater am Rhein 10/23
Rechtfertigung auf Skiern
„Der Nachbar des Seins“ am FWT – Theater am Rhein 08/23
Das digitale Paradies
Ensemble 2030 im Theater der Keller – Theater am Rhein 07/23
Metaebene der Clowns
„Clowns“ in der Studiobühne – Theater am Rhein 07/23