Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
13 14 15 16 17 18 19
20 21 22 23 24 25 26

12.560 Beiträge zu
3.788 Filmen im Forum

Foto: Oliver Strömer

Schöpfung ohne Schöpfer

06. Mai 2024

Max Fischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 05/24

Ironisch betrachtet ist es nicht mehr wichtig, wann der Mensch erschien – ob im Erdzeitalter des Pleistozäns (beginnend vor etwa 2,5 Millionen Jahren) oder im Holozän, das die letzten 12.500 Jahre bis ins Jetzt umspannt: Mit seinem Erscheinen setzte der Mensch die Uhr des Untergangs auf einen endgültigen Anfang. In seiner 1979 erschienenen Erzählung platziert Max Frisch eben jenen Menschen, Herrn Geiser, in eine abgelegene Schweizer Dorfhütte, die außer ihm, einer Katze und einem Feuersalamander lediglich das Wissen der Zivilisationen in Buchform beherbergt. Nach tagelangen heftigen Gewittern halluziniert der alte Mann das Abrutschen des Berges und die Auslöschung des Dorfes. Mit zunehmender Angst häufen sich ferner seine eigenen Gedächtnislücken. Um sich stets Auskunft erteilen zu können, schreibt der isolierte Senior die überlieferten Erkenntnisse aus Geschichts- oder Sachbüchern ab und kleidet damit die Wände des Wohnraums aus. Ein kräftezehrender Ausbruchversuch ins vermeintlich sichere Nachbarland Italien, verbunden mit Erinnerungen an seine verlorene Jugend, gelingt fast, bis dem Wanderer, seinem Ziel schon näher als der Aufbruchstätte, die Sinnlosigkeit seiner Flucht vor der Endlichkeit bewusst wird und desillusioniert in sein Heim zurückkehrt. 

In der rund 80-minütigen Adaption am Theater der Keller wagt Regisseur Ronny Miersch ein riskantes Experiment: Das prädestinierte Ein-Mann-Stück kreuzt er mit einem klassischen Chor aus fünf Schauspielerinnen, die dem Erzähler mal als geisterhafte Wesen, mal als Schafe oder real existierende Personen erscheinen. In der Hauptrolle setzt Thomas Balou Martin mit durchdringendem Charisma die Naturkräfte von Sturzbächen, Donnerschlägen und Blitzen frei. Auch das gleichmütige Schweigen des über ihm ragenden Berges intoniert der Mime meisterlich. Ob der darstellerische Kontrast zu den ihn umgebenden jungen Schauspielschülerinnen so gewollt war, bleibt dahingestellt. Trotz eines gelungenen Abbildes des beginnenden Wahnsinns wirken die Figuren mitunter überzeichnet, schreibt ihnen das Manuskript neben Tierlauten auch Charaktereigenschaften zu, deren Witz nicht zündet, etwa bei der stereotypen Verkörperung einer Greisin.

„Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen“, erinnert Geiser kurz vor seinem persönlichen Finale an die vielleicht nur flüchtige Erscheinung des Menschen im Weltengefüge. Auch Frischs existenzielle Fragestellung, „ob es Gott gibt, wenn kein Gehirn mehr existiert, das die Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann?“, füllt der melancholisch wie stoisch auftretende Protagonist mit erschütternder Stille auf der spartanisch eingerichteten Bühne. Unabhängig von dem damit verbundenen Drama des Lebens und Vergehens lautet im Theater der Keller die spielerische Auseinandersetzung „Reduzierug versus Maximierung“. Über dessen Ausgang beschied das Premierenpublikum mit langanhaltendem Applaus zugunsten des Ensembles.    

Der Mensch erscheint im Holozän | 9., 10., 22.5., 28., 29.6. je 20 Uhr, 16.6. 18 Uhr | Theater der Keller | 0221 31 80 59

Thomas Dahl

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

IF: Imaginäre Freunde

Lesen Sie dazu auch:

„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24

Einstürzende Bergwelten
„Monte Rosa“ am Theater der Keller – Prolog 02/24

Schleudergang der Pubertät
„Frühlings Erwachen: Baby, I‘m burning“ am Theater der Keller – Auftritt 11/23

Komik der Apokalypse
„Die Matrix“ im Theater der Keller – Theater am Rhein 10/23

Sonnenstürme der Kellerkinder
1. Ausbildungsjahr der Rheinkompanie – Theater am Rhein 08/23

„Die starke Kraft der Träume anzapfen“
Intendant Heinz Simon Keller über „Die Matrix“ am Theater der Keller – Premiere 08/23

Das digitale Paradies
Ensemble 2030 im Theater der Keller – Theater am Rhein 07/23

Essen, Scheißen und Fummeln
Charlotte Keller inszeniert „König Ubu. Oder wir sind am Arsch“ – Auftritt 07/23

Bots und Freiheitsträume
„Welcome to digital paradise“ am Theater der Keller – Prolog 06/23

Über den Tod: Eine Liebesgeschichte
Büchners Wiedergeburt am Theater der Keller – Theater am Rhein 04/23

Außenseiter der Gesellschaft
„Büchner“ am Theater der Keller – Prolog 03/23

Lehren des Widerstands
Theater der Keller: „Mädchenschule“ – Theater am Rhein 01/23

Theater am Rhein.

Hier erscheint die Aufforderung!