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PiaMaria Gehle
Foto: Laura Schleder

„Die Figuren reflektieren nur, sie tun eigentlich nichts“

31. Juli 2014

Regisseurin PiaMaria Gehle inszeniert „Alltag & Ekstase“ am Freien Werkstatt Theater – Premiere 08/14

PiaMaria Gehle, die frühere Intendantin des Theater der Keller, arbeitet wieder als freie Regisseurin. Zurzeit probt sie Rebekka Kricheldorfs „Alltag & Ekstase“ am Freien Werkstatt Theater.

choices: Frau Gehle, Sie waren von 2010 bis 2013 Intendantin am Theater der Keller und haben dann ihren Vertrag nicht verlängert. Wie geht es Ihnen inzwischen?
PiaMaria Gehle:
Ich genieße es, zu proben, ohne die ständige Verantwortung für ein Haus zu spüren, ohne die Sorgen im Hinterkopf zu haben, wie sich das Stück verkauft. Nur inszenieren zu dürfen, empfinde ich gerade als großen Luxus. Aber ich kenne mich: Irgendwann kommt wieder der Punkt, an dem mir das nicht mehr reichen wird. Dann wächst wieder die Lust, Verantwortung zu übernehmen und konzeptionell für ein Haus oder ein Festival zu denken.

Sie haben gerade an der Kölner Kinderoper inszeniert, jetzt arbeiten sie am Freien Werkstatt Theater. War es schwer, als freie Regisseurin wieder Fuß zu fassen?

So direkt nach der Zeit am Keller hatte ich erst einmal keine Lust, überhaupt irgendetwas zu machen. Dann kamen die Angebote, an der Kinderoper zu inszenieren und hier am FWT die Spielzeiteröffnung zu machen.In beiden Fällen hatte ich Glück, dass die Kollegen meine Arbeiten und mich kannten und auf mich zugekommen sind.

Rebekka Kricheldorfs Stück trägt den schönen Titel „Alltag & Ekstase“? Nicht gerade Dinge, die sich so bruchlos verbinden lassen.

Das Stück trägt den Untertitel „Ein Sittengemälde“ und zeigt in holzschnittartigen Szenen, welches Vakuum das Verschwinden von Religion, von Riten und Ritualen hinterlassen hat. Etwas, das einem Halt gibt. Jetzt hat man dagegen die Chance, alles zu sein, alles oder nichts zu glauben, jegliche Form des Lebens auszuprobieren. Rebekka Kricheldorf hat dafür eine Familie entworfen, in der alles, was möglich ist, auch möglich sein muss. In diesem Topf der Möglichkeiten, dieser Suppe an Sinnangeboten kochen die Figuren. Trotzdem sind sie ständig auf der Suche nach etwas, das ihr Leben füllt und ihnen Halt gibt. Sie schaffen es aber nur, ständig um sich selbst zu kreisen.

Die Autorin verortet diese Sinnsuche in einer Familie.

Das sind zunächst einmal in ihrer Egomanie wunderschöne und ziemlich pfiffige Figuren. Sie bauen sich alles in ihren Egobaukasten rein, werden darüber aber leider nicht glücklich, was sie aber nicht merken. Von der Konstellation her ist das eine klassische Patchwork-Familie. Großmutter Sigrun möchte sich niemandem mehr verpflichtet fühlen und kauft sich von der Familie frei. Sie baut sich ein Haus, das sich selbst versorgen kann wie eine Schlammschnecke, dann aber leider abbrennt. Ihr Ex-Mann Günther sagt, dass er in seinem engen Geburtskosmos nicht klarkäme. Er wird schwul und sucht sich gleichzeitig bei allen Religionen die schönsten Gebräuche aus. Beide haben einen Sohn, Janne, der seit Jahren völlig erfolglos Selbstverwirklichung in Arbeit und Karriere sucht. Bei seiner Ex-Frau Katja wiederum sind es immer neue Männer, die ausgetauscht werden, wenn’s kompliziert wird. Das ist natürlich komplett überzogen und überspitzt, aber das macht es zu einem sehr witzigen, gesellschaftskritischen, komisch-tragischen Stück.

Und dann ist da noch die Tochter River, die im Stück nie auftritt, sondern nur erwähnt wird.

Alle Figuren scheinen zu wissen, wie man dieses Kind erzieht, aber keiner will mit ihm umgehen. In jeder Szene taucht die Frage auf: „Wo ist River?“ Keiner hat eine Antwort. Am Schluss ist sie einfach abgehauen.

Woran leiden die Figuren?

Das ist der Preis der Freiheit, einer falsch verstandenen Freiheit. Dadurch, dass sie diese Freiheiten haben, werfen sie auch alles sehr schnell weg, das Mühe macht.

Geht es nur um das individuelle Glück?

Nur drei Szenen von sechzehn spielen nicht Zuhause. Es wird die ganze Zeit über große intellektuelle Entwürfe geredet, aber fast alles spielt im Wohnzimmer von einer der Figuren. Öffentlichkeit gibt es für diese Figuren nicht. Sie kreisen derart um sich selbst, dass es irrelevant ist, wo sie sind.

Die Figuren reflektieren ständig, was sie tun…

Die Figuren reflektieren nur, sie tun eigentlich nichts.

Worin besteht dann die Ekstase?

Gute Frage! Takeshi, der japanische Liebhaber von Günther, hilft Janne, über ein germanisches Ritual zu sich selbst zu finden. Über ihn kommen die kollektive Ekstase und der Ritus als Thema wieder in den Alltag dieser Figuren. Sie versuchen durch ständiges Reflektieren und Wiederkäuen ihrer Gefühle, die sie sich auch noch ständig gegenseitig zum Vorwurf machen, glücklich zu werden. Der Japaner ist die witzigste Figur im ganzen Stück.

Wie absurd oder wie realistisch ist das?

Natürlich ist das eine Farce. Der Japaner kommt aus einem Kulturkreis, den die aufgeklärten Europäer aufgrund seiner vielen Rituale für unfrei halten. In dem Stück ist das aber die einzige Figur, der es gut geht. Takeshi ist aus Gründen der Fortpflanzung verheiratet in Japan, studiert in Deutschland das Brauchtum und hat Sex mit Männern. Wenn er wieder nach Hause zurückfliegt, ist alles vorbei. Er ist die einzige Figur, die mit sich im Reinen ist, alle anderen reden nur darüber.

Kann man die Figuren dann überhaupt noch ernst nehmen?

Man soll natürlich über die Figuren lachen, aber gleichzeitig doch denken, oh Mist, das kenne ich doch von mir auch. Die Figuren gebärden sich ungeheuer selbstverliebt und versuchen zugleich zu verbergen, dass in ihnen nur ein einsamer Mensch steckt, der nicht weiß, wo sein Platz in der Gesellschaft ist. Dabei nehmen sie sich viel zu ernst. Ich hoffe, dass man bei ihnen auch die Trauer und die Verzweiflung hindurchschimmern sieht, dass ein Stachel der Realität spürbar bleibt.

Wie lässt sich vermeiden, dass der immer gleiche Entlarvungswitz der Farce irgendwann monoton wird?

Es wird darum gehen, die Nichtentwicklung zur Qualität zu machen. Also eine Qualität daraus machen, dass sich alle ständig im Hamsterrad drehen. Und Bilder zu finden, die diese Absurdität und Komik immer wieder anders transportieren. Das ist die Aufgabe, die der Text stellt.

Sie kamen 2010 aus Hamburg nach Köln. Was hat Sie bewogen, jetzt am Rhein zu bleiben?

Dass ich Kölnerin bin. Ich habe in Hamburg studiert und bin dann dort hängen geblieben, das waren neun Jahre, die waren großartig, die ersten Schritte in die Regie, die Leitung des Kaltstart-Festivals. Dann wollte ich die Aufgabe angehen. Dass es dann ein solche Aufgabe wie das Theater der Keller wird, hatte ich nicht erwartet. Dafür bin ich nach Köln gekommen und habe gemerkt, dass ich hier mehr zuhause bin. Ich bin Kölnerin und habe jetzt auch hier geheiratet. Deswegen gucke ich jetzt auch nicht sehr viel weiter.

„Alltag & Ekstase“ | R: PiaMaria Gehle | Do 28.8., Fr 29.8.19.30 Uhr | Freies Werkstatt Theater | 0221 32 78 17

PiaMaria Gehle hat zunächst Regie an der Schule des Theater der Keller studiert und legte ihr Regie-Diplom an der Hamburger Theaterakademie ab. 2010 übernahm sie die Intendanz des Theater der Keller. Seit 2013 ist sie wieder freie Regisseurin. Gehle ist Mitglied im Vorstand der Kölner Theaterkonferenz.

INTERVIEW: HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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