Prof. Christoph Butterwegge über wachsende Armut in Deutschland
choices: Herr Butterwegge, gibt es bei uns überhaupt Armut?
Christoph Butterwegge: Ja. Es handelt sich jedoch meistenteils nicht um absolute, extreme oder existenzielle Armut, die wir vor Augen haben, wenn es um die sogenannte Dritte Welt geht. Dort leben hunderte Millionen Menschen am physischen Existenzminimum, drohen also zu verhungern oder zu verdursten, haben keine der Witterung angemessene Kleidung und/oder keine Unterkunft. Bei uns dominiert hingegen die relative Armut, die im Vergleich zu dem Wohlstand gesehen werden muss, der die Armen umgibt. In diesem Sinne ist man dann arm, wenn man sich immer mehr von dem nicht leisten kann, was in einem reichen Land wie unserem als normal gilt.
Wie stellt sich Armut bei uns dar?
Die Betroffenen sind in verschiedenen Lebensbereichen benachteiligt: Bildung, Gesundheit, Freizeit und Kultur, aber auch was ihr Wohnumfeld angeht. Sie können mit Hartz IV zwar ihre Grundbedürfnisse decken, haben zu essen und zu trinken, haben Kleidung und Wohnraum. Aber es mangelt daran, in anderen Lebensbereichen mithalten zu können. Darunter leiden vor allem Kinder und Jugendliche, die dem Druck der Werbeindustrie ausgesetzt sind.
Bedeutet Hartz IV Armut?
Ganz ohne Zweifel. Zwar gilt das Arbeitslosengeld II als Grundsicherung und soll das soziokulturelle Existenzminimum sichern. Nur, kulturelle Teilhabe ist mit 391 Euro plus Miete und Heizkosten, die das Jobcenter – wenn man Glück hat – vollständig übernimmt, kaum möglich. Man kommt damit vielleicht ins Foyer eines Theaters, hat ein kluger Mann gesagt, aber ganz bestimmt nicht in eine Vorstellung.
Warum wird Hartz IV dann als Erfolgsgeschichte verkauft?
Weil die etablierten Parteien im Schulterschluss die Hartz-Gesetze auf den Weg gebracht haben – CDU/CSU und FDP wollten das Gesetzespaket im Bundesrat ja sogar noch verschärfen. Aber natürlich auch, weil Politiker gerne Erfolgsgeschichten erzählen, um wiedergewählt zu werden. Allerdings verkennt man, dass nicht bloß das Leben der unmittelbar Betroffenen erschwert wurde, sondern auch der soziale Zusammenhalt in der Gesellschaft und damit letztlich die Demokratie selbst gefährdet ist.
Die Demokratie ist gefährdet? Durch Hartz IV?
Der Demokratie wurde damit ein Bärendienst erwiesen. Wir sind auf dem Weg in eine Ohne-mich- Demokratie. Viele Menschen, die sozial benachteiligt sind, ziehen sich zurück, weil sie keineswegs zu Unrecht den Eindruck haben, dass die etablierten Parteien ihre Interessen nicht mehr vertreten. Und noch schlimmer, dass sogar gegen sie Politik gemacht wird. Aber auch, weil in der Öffentlichkeit Witze über Hartz-IV-Bezieher gemacht werden, weil sie von ihren Mitmenschen als Faulenzer, Drückeberger und Sozialschmarotzer stigmatisiert werden. In dem Villenviertel Köln-Hahnwald lag die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013 bei knapp 89 Prozent, während in der Hochhaussiedlung Köln-Chorweiler nicht mal jeder Zweite wählen ging. Das ist, neben der Demontage des Sozialstaates, das eigentlich Verheerende an den Hartz-Gesetzen.
Aber wurden durch die Hartz-Gesetze nicht viele Menschen, die es sich in der sozialen Hängematte bequem gemacht hatten, wieder für den Arbeitsmarkt aktiviert?
Ich sehe das eher umgekehrt. Eine Hängematte gab es ohnehin nie. Mit Hartz IV ist das soziale Netz, wie es für die alte Bundesrepublik charakteristisch war, zerstört worden. Vorher gab es mit der Arbeitslosenhilfe eine den Lebensstandard der Langzeitarbeitslosen halbwegs sichernde Lohnersatzleistung. Ein Diplomingenieur bekam 53 Prozent (ohne Kind) bzw. 57 Prozent (mit Kind) seines vorherigen Nettogehalts als Arbeitslosenhilfe. Seit dem 1. Januar 2005 fällt er nach einem Jahr Alg-I-Bezug auf ein Niveau, das der Sozialhilfe oder der Fürsorge entspricht. Damit wird das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit mit Füßen getreten, denn Arbeitslosengeld II bekommt auch derjenige Erwerbsfähige, der niemals gearbeitet hat.
Was bedeutet Hartz IV für nicht unmittelbar Betroffene?
Die Hartz-Gesetze waren Ausdruck einer Strategie des Lohndumpings, die das Ziel verfolgte, Deutschland durch Ausweitung seines Niedriglohnsektors noch konkurrenzfähiger auf den Weltmärkten zu machen. Mittlerweile ist „unser“ Niedriglohnsektor nach den USA der größte unter den hoch entwickelten Industriestaaten. 24,3 Prozent aller Beschäftigten arbeiten im Niedriglohnsektor. Dort finden sich aber nicht nur Geringqualifizierte, sondern drei Viertel der dort Tätigen haben eine Berufsausbildung, 11 Prozent sogar einen Hochschulabschluss. Der Niedriglohnsektor, den Gerhard Schröder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2005 als großen Erfolg seiner Arbeitsmarktpolitik gefeiert hat, war das eigentliche Ziel, das mit den Hartz-Gesetzen verfolgt wurde.
Was müsste geschehen, um das Armutsrisiko durch Hartz IV zu minimieren?
Hartz IV muss rückabgewickelt werden! Wir brauchen wieder eine lebensstandardsichernde Lohnersatzleistung und eine soziale Grundsicherung, die diesen Namen verdient. Wir müssen die Menschen davon überzeugen, dass wir auf dem falschen Weg sind. Auch, weil mit Hartz IV ja ein Aufstiegsversprechen verbunden war, das nicht gehalten wurde. Man behauptete, dass Langzeitarbeitslose wieder zurück in den ersten Arbeitsmarkt finden würden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Heute ist jeder dritte Arbeitslose ein Langzeitarbeitsloser, also länger als ein Jahr ohne Arbeit, und die Hälfte aller Hartz-IV-Betroffenen befindet sich seit 4 Jahren oder länger im Leistungsbezug. Um die Menschen aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen und sie in nachhaltige Jobs zu bringen, bräuchte es eine konsequente Beschäftigungspolitik, die auch den Niedriglohnsektor mit einem wirksamen Mindestlohn von 10 Euro eindämmt. Der großkoalitionäre Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ist zu niedrig, kommt zu spät, nämlich erst 2017, und ist aufgrund vieler Ausnahme-, Übergangs- und Sonderregelungen ungeeignet, den ausufernden Niedriglohnsektor einzudämmen. Er kann diesen höchstens nach unten abdichten und die Lohnspreizung etwas mildern, mehr aber nicht. Es wird also weiterhin Erwerbsarmut, Lohndrückerei und Aufstockerei bei Hartz IV geben, ebenso Menschen, die nebenbei Regale einräumen, frühmorgens Zeitungen austragen oder abends noch Pizzen herumfahren, wenn sie nicht sogar leere Flaschen sammeln, um ihren kargen Lohn aufzubessern.
Stichwort „Flaschensammler“: War es eigentlich Zufall, dass Rot-Grün zum 1. Januar 2003, also zeitgleich mit Hartz I und Hartz II, auch das Einwegpfand eingeführt hat?
Das war sicherlich nicht intendiert, ist aber eine zu diesen Arbeitsmarktreformen passende Begleiterscheinung. An den Pfandsammlern wird der Prozess der sozialen Spaltung offensichtlich. Es endet ja nicht bei den Flaschen, sondern immer mehr Menschen suchen in Abfalleimern und Müllcontainern auch nach Essensresten. Während die relative Armut in die Mitte der Gesellschaft vordringt und sich dort verfestigt, breitet sich heimlich auch die absolute Armut aus. Ich denke dabei vornehmlich an Obdachlose, die in kalten Wintern erfrieren, an Straßenkinder, an total verelendete Drogenabhängige, an illegalisierte Zuwanderer sowie an südosteuropäische Arbeitsmigrantinnen und -migranten, die teilweise unter entwürdigenden Bedingungen leben.
Lesen Sie weitere Artikel zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
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