Zum Finale der WM erscheint Sébastien Telliers CD „L'Aventura“, die mit einer Hommage an die brasilianische Bossa-Psychedelic der frühen 70er Jahre eröffnet und dann den frankophilen Pop der späten 70er und 80er Jahre in Erinnerung ruft. Dabei kennt der ESC-Teilnehmer zwischen experimentierfreudigem Blick auf Mainstream und „La Boum“-Schmalz keine Schamgrenze (Record Makers). Dass das Solo-Akustik-Projekt des Melvins-Gitarristen und -Sängers Buzz Osborne nicht bei Liedermacherei landet, war absehbar. Und dennoch ist man dann froh, auch akustisch Osbornes wuchtige Kanten wiederzuerkennen. „This Machine Kills Artists“ quengelt und drängelt genauso wie der über drei Jahrzehnte erprobte gepresste Hardcore der Melvins. Insofern ist das Album vielleicht eher eine Variation als eine Innovation, aber Letzteres haben die Melvins in den 80er und 90er Jahren zur Genüge vollbracht (Ipecac).
Das Fire! Orchestra erinnert an opulente Jazz-Kollektive der frühen 70er Jahre wie Keith Tippets „Centipede“, Carla Bleys „Escalator Over the Hill“ oder Charlie Hadens „Liberation Music Orchestra“. Das 28-köpfige norwegische Kollektiv um Saxophonist Mats Gustafsson wütet auf vier langen Stücken zwischen Powerrock, Free Jazz und Noise, dass die Splitter fliegen. „Enter“ heißt das Album, und… ja... es geht ab (rune grammofon). Das Folgende ist nicht nur Volksmusik im Sinne der vielen Menschen, die beteiligt sind, sondern auch, weil es musikalisch auf ältere Traditionen als Jazz und Rock zurückgreift: Immerhin auch 15 Musiker aus fünf Bands, allesamt aus unterschiedlichen, eigentlich verfeindeten Ethnien aus der Kasai-Region des Kongos, bilden die Kasai-Allstars. Sie spielen E-Gitarren, verstärkte Daumenklaviere, Xylophon und diverse Perkussion-Instrumente. Das alles aber auf eine aggressiv-rohe Art, die ihre langen, repetitiven und tranceartigen Stücke permanent nach vorne treiben. Über 100 Minuten auf zwei CDs: „Beware the Fetish“ erscheint als fünftes Album der Congotronics-Reihe, in der zuvor bereits Platten des vergleichbar rauen Kollektivs Konono No.1 erschienen sind (Crammed Discs).
Das schwedische Duo The Knife veröffentlicht mit dem digital-only Release „Shake Up Versions“ acht Stücke aus seiner Diskographie in neuen Versionen, die dem aktuellen, nervösen Sound der Band entsprechen. Wild perkussiv und psychotisch geben sich die neu arrangierten Elektronikstücke, darunter die großartigen Tracks „Pass This On“ und „Birds“ (Pias). Lange nicht mehr einen so schönen Promotext gelesen. Alle Bonmots sind schon da – warum also mühsam neue erfinden? Verknappt ist da über „Rückverzauberung 9“, die im Auftrag des Festivals „Doofe Musik, Lieder zum Träumen, Betäuben und Vergessen“ erschienene CD von Wolfgang Voigt zu lesen: „Narkotische Bläserloops … taumeln Richtung Unendlichkeit … egerländern auf Valium. Programmatische Langeweile … berauschter Glückseeligkeit … (pop)ambienter Entrücktheit“. So ist es, und es ist gut so: Schwindsüchtiger Blaskapellen-Ambient (Profan). Nochmal Ambient, aber analog: Dylan Carlson von Earth hat den Soundtrack zu Thomas Arslans Western „Gold“ mit Nina Hoss beigesteuert und liegt recht nah an Neil Youngs Tonspur zu Jim Jarmuschs „Dead Man“: Langgezogene, schwer verzerrte staubige Gitarrenriffs und Drones prägen die atmosphärischen Stücke (self released).
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Live und After-Life
Überirdische Reunionen und Rituale – Kompakt Disk 12/19
Zarte Geister und suizidaler Horror
Seelenzustände in Musikform – Kompakt Disk 10/18
Sentimentale Jugend
Ambiente Klangwelten, kantiger Pop und ergreifende Vielgestaltigkeit – Kompakt Disk 04/18
International Krautronics
Rückblick auf Science Fiction-Sounds der 70er Jahre – Kompakt Disk 03/18
Irgendwie alles psychedelisch
Bewusstseinserweiternder R‘n‘B, Hip-Hop, Afrobeat und Indie-Pop – Kompakt Disk 12/17
Vergangene Zukunft der Popmusik
Somnambule und sedierte Klanglandschaften – Kompakt Disk 11/17
Zwischen den Traditionen
Transkontinentale Musik mit Zeitsprüngen – Kompakt Disk 10/17
Vierte-Welt-Musik
Fantasien zwischen Kopiergerät, Werbung und der weiten Welt – Kompakt Disk 09/17
Quer durch den Klangdschungel
Auf Entdeckungsreise mit Avey Tare, F.S.K., Boris und anderen – Kompakt Disk 08/17
Musikalischer Pointillismus
Rhythmische Finesse vom Mittelalter bis in die Gegenwart – Kompakt Disk 07/17
Weltfusion
Musikalischer Kulturaustausch – Kompakt Disk 06/17
Rückbesinnung
Geschichtsbewusstsein und Erinnerungsarbeit – Kompakt Disk 05/17
„Der Jazz wird politischer und diverser“
Jurymitglied Sophie Emilie Beha über den Deutschen Jazzpreis 2024 – Interview 04/24
Überbordende Energie
Dead Poet Society live im Luxor – Musik 04/24
In alter Blüte
Internationales Line-up beim Kunst!Rasen Bonn 2024 – Festival 04/24
Kleinteilige Tonalität
Das Festival „Acht Brücken“ erforscht die Zwischentöne – Festival 04/24
Einfach mal anders
Das stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen geht eigene Wege – Festival 04/24
Geschichtsträchtige Konzerte
Wandelbare Ikonen und perfekte Coverbands – Unterhaltungsmusik 04/24
Von Polen bis zu den Kapverden
Over the Border-Festival in Bonn – Musik 03/24
Von Zähnen und Schwänen
Schwergewichtige Sounds und debiler Humor – Unterhaltungsmusik 03/24
Bratschen im Fokus
„Violas Go Wild“ in der Kölner Philharmonie – Musik 02/24
Musik mit und ohne Verkleidung
Trotz Karneval ist Platz für Konzerte in Köln – Unterhaltungsmusik 02/24
Wann durchstarten, wann aufhören?
Der Konzert-Januar läuft sich nur langsam warm – Unterhaltungsmusik 01/24
Kalte Klänge für kühle Zeiten
Kölner Subkultur und deutsche Popmusik – Unterhaltungsmusik 12/23
Spiel mit der Melancholie
Andreas Staier im MAKK – Musik 11/23