Wenn Pippa sich zur Musik dreht, leuchtet ihr Tüllrock im Dämmerlicht und es kehrt Ruhe ein in der Spelunke. Die Männer glotzen stumm und entrückt. Der feiste Glashüttendirektor (Martin Reinke), der zuvor mit jovialen Tiraden dominierte, der ehemalige Glasbläser (Jakob Leo Stark), ein animalischer Rübezahl im Fellmantel, der durchreisende Handwerksbursche und Träumer (Yuri Englert) und der Vater des Mädchens (Johannes Benecke), ein Falschspieler, der sich für die Darbietung der Tochter bezahlen lässt und dem die Dollar-Zeichen aus den Augen springen.
Die Pippa in der Inszenierung von Figurentheater-Spezialist Moritz Sostmann ist eine Puppe unter (lust- und kraftvoll gespielten) Kerlen, halb so groß wie sie, grazil, mit kindlich geflochtenen Zöpfen. Der perfekte Ausdruck idealisierter Weiblichkeit, wie sie in Gerhart Hauptmanns 1906 uraufgeführtem Vierakter angelegt ist; der damals 42-jährige Autor schrieb die Figur der minderjährigen Schauspielerin Ida Orloff auf den Leib. Doch auch wenn die von Atif Hussein gestaltete Pippa-Puppe getragen und bewegt werden muss: Gänzlich hilflos wirkt sie nicht. Was nicht nur an ihren nüchternen Zügen liegt, sondern vor allem an Schauspielerin Magda Lena Schlott. Sie führt und spricht Pippa mit einer Mischung aus amüsiert-selbstbewusster Lässigkeit und (erotischer) Neugier, die das vorhandene Machtgefüge in Frage stellt und Scherben hervorbringen wird.
Als Conférencieuse im Pierrot-Kostüm spielt Schlott auch die Gastgeberin in dem angestaubten Varieté, in das die Halle Kalk mit rotem Vorhang, Laufsteg, gemalten Kulissen und Bistrotischchen im Zuschauerraum verwandelt. Eine entrückte, traumartige Welt, in dem Gläser singen, Daunen-Schnee von der Decke schwebt, ein Hexenmeister im Gerhart-Hauptmann-Look (die zweite Puppe) Blitz und Donner beherrscht und ein buckliger Riff-Raff-Verschnitt Johl- und Jammergeräusche aus kleinen Fläschchen mixt. Ein herrlicher Hokuspokus, bei dem zwar (auch wegen zeitweisen schlesischen Gemurmels) nicht alles verständlich ist, der aber gut die schaurig-schöne Atmosphäre dieses „Glashüttenmärchens" illustriert.
„Und Pippa tanzt!" | R: Moritz Sostmann | 1., 2., 5., 9., 10., 11., 13., 16., 21., 22., 24., 29.4. 19.30 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 28400
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