Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
22 23 24 25 26 27 28
29 30 1 2 3 4 5

12.562 Beiträge zu
3.787 Filmen im Forum

Claudia Schmid gibt unbekannten Frauen eine Stimme
Foto: Katja Sindemann

Ein Ende des Schweigens

21. Februar 2017

„Unter aller Augen“ thematisiert Gewalt gegen Frauen weltweit – Foyer 02/17

Sonntag, 19. Februar: Ihr Körper ist über und über mit Narben bedeckt. Yolande aus Benin wurde von ihrem Mann mit Säure übergossen. Still zeigt sie Fotos, auf denen die offenen roten Wunden zu sehen sind. Auf einem früheren Bild strahlt sie als junge Frau. Vumilia und Joziana aus der Demokratischen Republik Kongo erzählen, wie sie von Rebellen vergewaltigt und in die Wälder verschleppt wurden. Heute leben sie als Ausgestoßene in der Wildnis. Minara aus Bangladesch wurde in zwei Ehen schwer misshandelt. Maya aus Deutschland wurde von ihrem Gatten jahrelang geschlagen, vergewaltigt und mit dem Tod bedroht. Still beobachtet die Kamera, wie die Protagonistinnen erzählen, ihnen dabei die Tränen herunter laufen. Einige stellen das Erlebte szenisch dar: Wie Soldaten in das Haus eindringen, sie zu Boden werfen, mit Messern verletzen, mit Stöcken vergewaltigen. Danach herrscht für einige Zeit Stille. Nur hin und wieder informiert der Off-Text: In Benin sind ein Fünftel aller Frauen beschnitten, werden ein Drittel der Mädchen zwangsverheiratet. In der DR Kongo ist die Hälfte der entführten Frauen verschollen. In Deutschland erlebt jede dritte Frau häusliche Gewalt. „Unter aller Augen“ ist bedrückend, schockierend, manchmal unerträglich bis zur Schmerzgrenze.


„Unter aller Augen“, Yolande aus Benin mit ihren Kindern, Foto: Heike Frielingsdorf

Wie geht sie mit all dem Leid um, wollen wir von Regisseurin Claudia Schmid wissen. „Natürlich haben mir die Gewaltgeschichten zugesetzt, vor allem nachts, wenn sie erneut vor meinen Augen erschienen. Da ich mit den Frauen viel Zeit verbracht habe, haben mich die Erzählungen getroffen. Auch die Bearbeitung der Interviews und der Schnitt waren anstrengend. Aber letztlich ist meine Belastung im Vergleich mit deren Leid geradezu lächerlich. Der Mut und die Kraft meiner Protagonistinnen haben mich beeindruckt und mir Energie und Hoffnung gegeben, weiterzumachen. Im Lauf der Arbeit haben sich die Frauen derart verändert, dass ich es kaum glauben konnte“, erklärt sie. Die Meldungen aus dem Publikum nach der Weltpremiere sind spürbar beeindruckt, bewegt, dankbar. Schmid hat den Film selbst gedreht. „Ich halte das Equipment so klein wie möglich, um das Vertrauen der Frauen zu gewinnen und direkter mit ihnen verbunden zu sein. Die Kameraarbeit gibt mir Halt und erhöht Intensität und Intimität. Die Frauen vertrauen mir. Sie wissen, dass ich die Produktion von A bis Z betreue.“ Schmid erzählt, dass sie monatelang recherchiert und unter ärmlichsten Umständen gelebt habe. Es sei schwer gewesen, die passenden Frauen zu finden. Sie ist sich der Gefahr ihrer Arbeit bewusst – für die Protagonistinnen und sich selbst.


Claudia Schmid, Chantal Louis, Sandra Bulling, Eva-Maria Hertkens, Kerstin Zander,
Judith Steinbeck (v.l.n.r.), Foto: Katja Sindemann

Im anschließenden Podiumsgespräch unter Moderation der Journalistin Chantal Louis werden verschiedene Aspekte der weltweiten Gewalt gegen Frauen thematisiert. Sandra Bulling, Medienkoordinatorin bei CARE, berichtet, dass die Hilfsorganisation Kredite vergebe, Gesundheitsförderung und gesellschaftliche Aufklärung betreibe. So habe Minara aus Bangladesch eine Hebammenausbildung bekommen, arbeite heute in einer Schule und leite eine Sportgruppe für Mädchen – in einem Land, wo Sport für Frauen verboten ist. Eva-Maria Hertkens von Missio informiert über Traumazentren im Kongo. Die von Rebellen vergewaltigten Frauen sind gesellschaftlich stigmatisiert, die so entstandenen Kinder werden geächtet, verleugnet und nicht registriert. Eine Sozialarbeiterin macht den Frauen Mut und gibt ihnen Einkommenstipps. Heute haben alle Handys, um im Notfall Hilfe herbeirufen zu können.

Kerstin Zander betreut die Internetplattform „re-empowerment!“, wo sich Frauen austauschen, die von Gewalt in der Partnerschaft betroffen sind. Zander schildert die Spirale: „Es beginnt als große Liebe. Dann erfolgen Mikroangriffe, um die Frau in ihrem Selbst zu verunsichern. Ein Machtungleichgewicht entsteht. Der Frau wird vermittelt, sie sei schuld, nicht in Ordnung. Auf psychische folgt physische Gewalt.“ Die Psychologin Judith Steinbeck führt aus: „Die Amerikaner nennen es ‚Gaslight-Syndrom‘, nach dem Film ‚Gaslight‘, in dem der Mann seine Gattin langsam in den Wahnsinn treibt. Das Selbst der Frau wird zerstört. Oft setzt sich das auf eine frühkindliche Traumatisierung, wo Frauen Schlimmes erlebt haben, drauf.“ Ihre Bemerkung, dass auch in Deutschland Patriarchat herrsche, findet den Applaus des Publikums. Einig sind sich die Rednerinnen, dass Bildung der Schlüssel für ein besseres Leben ist. Und es wichtig sei, Traumata aufzuarbeiten. „Unter aller Augen“ bietet bei allem Leid auch Lichtblicke: Die Protagonistinnen können heute wieder lachen, leben ein neues Leben. Und Claudia Schmid hat schon Pläne für die nächsten Filme, die sie drehen will.

„Unter aller Augen“ läuft ab 9. März in den Kinos.

Katja Sindemann

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Challengers – Rivalen

Lesen Sie dazu auch:

Bereichernde Begegnungen
„Anne-Sophie Mutter – Vivace“ mit Filmgespräch im Cinenova

„Wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut“
Frauenstreik in Köln – Spezial 03/19

Was wird aus dem Cinenova?
Will eine Immobilienfirma Ehrenfelds Filmkunstkino in die Knie zwingen? – Kino 02/19

Geschichte wiederholt sich
„La Peur“ im cinenova – Foyer 11/18

Großer Preis der kleinen Filme
Deutscher Kurzfilmpreis im Cinenova – Foyer 11/17

Skandal-Ehe
Vom frühen „Bund des Teufels“ mit der „Pfaffenhure“ – THEMA 11/17 FRAU LUTHER

„Geschlecht ist eine soziale Konstruktion“
Theologin Jantine Nierop über das Studienzentrum für Genderfragen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) – Thema 11/17 Frau Luther

Von einem echten Wiener
„Die Migrantigen“ im Cinenova – Foyer 09/17

Kreativer Tabubruch
„In der Regel verschwiegen“ erzählt, tanzt, performt Geschichten zur Periode – Bühne 08/17

Gegen Gewalt an Frauen
„One Billion Rising“ will am 14.2. ein Zeichen gegen die Ausbeutung von Frauen setzen – Spezial 02/17

Die perfekte Besetzung
„Die Mitte der Welt“ im cinenova – Foyer 11/16

Plädoyer für die Freiheit
„The Walk“ von Maya K. Rao an der Studiobühne Köln – Bühne 10/16

Foyer.

Hier erscheint die Aufforderung!