Das Werk von Alfred Kubin hat einen legendären Ruf. Seine Arbeiten wirken oft geheimnisvoll und lassen sich nicht bis ins Letzte entschlüsseln. Kubin fängt Albträume und Traumwelten ein, die etwas Elementares und dabei Bedrohliches kennzeichnet – jedenfalls auf den bekanntesten Teil seines Werkes trifft dies zu. Er bezieht sich dabei mitunter auf Literatur mit einem ähnlich finsteren, unabsehbaren Klang (etwa von E.A. Poe, Franz Kafka). Aber vielleicht fördert die besondere Aufmerksamkeit gegenüber Kubins Aquarellen, Zeichnungen und Lithographien noch, dass es das Gesamtwerk zuletzt nur selten zu sehen gab. So ist die Ausstellung, die jetzt im Kollwitz Museum am Neumarkt eröffnet wird, seine erste Schau im Rheinland seit achtzig Jahren. Sie umfasst, ausgehend vom Bestand der Ostdeutschen Galerie Regensburg und mit weiteren Leihgaben der Museen in Linz sowie aus Wiener und New Yorker Privatbesitz, das gesamte Oeuvre mit Schwerpunkt auf den Anfängen. Aber sie stellt auch klar, dass die Zeichnungen mit Chimären zwar lediglich das Frühwerk betreffen, aber Kubin auch später auf surreal anmutende Formulierungen und die Schilderung von Zwischenwelten zurückkommt.
Schon in seinen Aquarellen und Federzeichnungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bringt Kubin ein weites grafisches Spektrum zur Anwendung. Die Zwitter und androgynen Wesen, die in eine dunkle Landschaft eingefügt sind, heben sich mittels Schraffuren vom Grund ab. Auch zeigt Kubin unabsehbare Innenräume mit steil aufragenden Wandflächen, die eine Verlorenheit des Menschen zum Ausdruck bringen. Die Titel solcher Blätter lauten, teils nicht ohne eine spielerische Note: „Possierliche Monsterchen“, „Angst“, „Vision vom Tod“. Kubin formuliert Gedanken zur Schöpfung und zur Endlichkeit des Lebens. Er, der Zeitgenosse von Sigmund Freud ist, verbildlicht tiefenpsychologische Aspekte und greift eine tiefe Verunsicherung in diesen Jahren auf. Und er schließt mit seiner Kunst an eine ganze Generation von Künstlern zwischen Symbolismus und Surrealismus an, wie Stuck oder Klinger oder Gabriel von Max.
Kubin ist aber auch ein virtuoser Handwerker, der das ganze Repertoire der Zeichenkunst beherrscht und dabei über eine ausgeprägte Fantasie verfügt: Qualitäten, die ihn für die Verbildlichung des Mythischen und Mystischen prädestinieren. Seit dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts avanciert er zum meist beschäftigten Illustrator für Literatur im deutschsprachigen Raum, u.a. von Balzac, Dostojewski, ETA Hoffmann, Strindberg. Zugleich fertigt er Zeichnungen für die Zeitschrift „Simplicissimus“ an.
Hochgeschätzt im Alter
Kubin wurde 1877 in Nordböhmen geboren. Ab 1898 studiert er in München Kunst. Er verkehrt in den dortigen Künstler- und Literatenkreisen, reist durch Europa, durchlebt eine Schaffenskrise und schreibt 1908 einen Roman, der ein Erfolg wird. Hauptsache aber bleibt die Bildende Kunst. Ende des Jahrzehnts findet er zu seinem eigenen Zeichenstil. 1912 wird er Mitglied der Künstlergruppe „Blauer Reiter“ in München, wenig später ist er zur „Sturm“-Ausstellung von Herwarth Walden in Berlin eingeladen. Als Künstler etabliert, allerdings von den Illustrationen lebend wendet er sich ab 1925 der Darstellung volkstümlicher Überlieferungen zu, die er oft mit einem feinen Humor veranschaulicht und die eine neue Phase in seinem Werk bilden. Zu seinen Sujets gehören Eulenspiegel, Rübezahl sowie Waldgeister. Auch da erweist sich Kubin als großartiger und souveräner Zeichner, der mit leichter Hand die alten Mythen aufleben lässt und den Geschöpfen Leben einhaucht, ja, ihnen eine Unmittelbarkeit verleiht. Kubin wird zum Grenzgänger zwischen ernster, intellektueller und unterhaltender Kunst.
Im Alter erhält Kubin, der von 1906 bis zu seinem Tod 1959 in Zwickledt/Oberösterreich ansässig ist, zahlreiche Ehrungen, er wird mit dem Österreichischen Staatspreis und der Gustav Klimt-Plakette der Wiener Sezession sowie Preisen auf den Biennalen von Venedig und São Paulo ausgezeichnet. Im Wesentlichen gelten die Ehrungen seiner symbolistischen Zeichenkunst und seinen Illustrationen. Aber neben all dem entstehen über die Jahre hinweg Zeichnungen, die direkt vom Menschen in seiner Zeit handeln. Darin lassen sie an das Werk von Käthe Kollwitz (1867-1945) denken, dieser sozialkritischen Zeichnerin und Bildhauerin, die Namensgeberin des Museums am Neumarkt ist und deren Werk dort gesammelt wird. Obzwar Kubin vom Kriegsdienst freigestellt ist und selbst in verhältnismäßig sicheren Verhältnissen lebt, wendet er sich in geradezu veristischen Bildern wiederholt der Situation der arbeitenden Bevölkerung zu. Er zeichnet den Tod armer Menschen, zeigt einen musizierenden Krüppel und eine „Ringelspielfrau“ auf der Kirmes. Das sind Themen, die also nicht nur den Künstlern um Käthe Kollwitz, sondern auch Kubin unter den Nägeln brennen: Die Wirklichkeit der Städte und der sozialen Verhältnisse waren für die Künstler nicht zu übersehen. Und die gesellschaftliche Realität war schließlich erschreckender als all die zwitterhaften Kopfgeburten und überlieferten Mythen.
Alfred Kubin – Nebenwelten I 7.10.-4.12. im Käthe Kollwitz Museum I www.kollwitz.de
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