Öffentliche Räume werden zunehmend mit Ängsten besetzt. Die lieblose Gestaltung und eine untergründige Furcht vor Übergriffen führen zu einem defensiven Umgang mit dem Raum, in dem es eigentlich allen möglich sein sollte, miteinander zu kommunizieren. So sind etwa die in Bahnhöfen aufgestellten Fotoautomaten nicht unbedingt Apparaturen, mit denen wir angenehme Gefühle verbinden. Aber ein Automat, der die Alpträume seiner Kunden fotografiert, ist schon von besonderem Kaliber. In der neuen Produktion „Alle 4 Minuten“ des Tanzensembles HeadFeedHands aus Köln und Freiburg wird der Apparat zum Treffpunkt im öffentlichen Niemandsland. Der Fotoautomat steht in einer Bahnhofshalle zwischen Plastiksitzen für Wartende. Kleinere Dramen werden von größeren abgelöst. Ein Papierkorb fängt Feuer, die Ereignisse schaukeln sich hoch, ein Virus löst Panik aus, später geht ein Amokläufer um.
Ungewöhnlich erzählintensiv ist die Produktion von HeadFeedHands und seinen australischen Regiegästen Gavin Webber und Kate Harman in der Studiobühne. Der Tanz der fünf ausgezeichneten Performer (Günter Klingler, Marion Dieterle, Tim Behren, Emmeran Heringer und Florian Patschovsky), die über akrobatische Qualitäten verfügen, ist ganz auf die Handlung ausgerichtet. Wie nehmen wir uns Raum im öffentlichen Areal und wie wird er uns von anderen versperrt oder verwehrt? Ein Thema, das beispielhaft im Tanz verhandelt wird. In „Alle 4 Minuten“ sind die Bewegungen motiviert, keine verspielten Zwischeneinlagen, mit jeder Bewegung muss die Story vorangetrieben werden. Eine solche inhaltliche Ökonomie findet sich nur selten auf zeitgenössischen Tanzbühnen. Dazu bedarf es konsequenter Dramaturgie, handwerklichen Geschicks, Disziplin und Ideenreichtum. Über all diese Voraussetzungen verfügt das Team. Das Stück spielt mit der Paranoia, die sich an öffentlichen Orten entzündet und uns um unsere körperliche Sicherheit bangen lässt.
HeadFeedHands orientiert sich für das Repertoire seiner Choreographie an den Bewegungen unseres Alltags. Man geht ihren Motiven und ihrer Herkunft nach. Ein anspruchsvoller Realismus, der mit humorvollen Einsprengseln durchsetzt ist, aber auch wuchtiges Pathos entfaltet, wenn zu Elvis Presleys „Falling in Love“ eine Frau ihren Geliebten am Gaumen packt und ihn über die Bühne schleift. Einige Passagen könnten gestrafft werden, aber letztlich zahlt es sich aus, dass diese Inszenierung konsequent eigene Wege geht und mit einer mutigen Ästhetik und tänzerischer Präzision ihr Publikum zu überraschen versteht.
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