80.000 Herero und Nama verloren am Anfang des 20. Jahrhunderts ihr Leben durch die Deutschen in Namibia, der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Bis jetzt sind die Verbrechen nicht abschließend aufgearbeitet, Reparationsfragen sind ungeklärt. Auch wird in vielen Museen noch immer Raubkunst aus Kolonien ausgestellt. Die koloniale Geschichte Deutschlands ist ein unabgeschlossenes Thema, vielleicht auch ein zu wenig diskutiertes. Das Schauspiel Köln präsentierte im Rahmen von „Translocal – Festival postkolonialer Perspektiven“, das vom 26. bis 30. Mai stattfand, Hörspiele, Performances, Theater und Tanz, zum Teil handelte es sich um Gastspiele aus Belgien, Nairobi und Singapur.
Das Festival eröffnete an einem schwülen, etwas drückenden Sonntag. Vor dem Depot im Mülheim stehen viele Leute, sind am Schwatzen mit einer Limo oder einem Glas Wein in der Hand. Kurz vor 16 Uhr strömen die meisten dann ins Schauspiel – parallel zur ersten Veranstaltung des Translocal ist auch „Pardon wird nicht gegeben“ im regulären Programm zu sehen. Zehn Personen verbleiben noch vor der Grotte des Schauspiels und warten auf Einlass zum Hörspiel „Dienstbare Geister“ von Paul Plamper. Es wurde 2018 mit dem Hörbuchpreis ausgezeichnet und besteht es aus zwei Teilen. Der erste spielt 1905 und beruht auf Originalaufzeichnungen einer Frau, die von Berlin in die Kolonie Kamerun umgesiedelt ist. Der zweite Teil baut auf Geschichten von Migranten aus dem Jahr 2015 auf und erzählt die Geschichte von Martin, der von Kamerun nach Berlin geflohen ist.
Es beginnt mit einem Brief, in dem die junge Berlinerin bittet in eine Kolonie ziehen zu dürfen. Dort angekommen drückt sie ihre Begeisterung aus über die Natur und den Lebensstandard, den sich in Europa sonst nur die Reichsten leisten könnten: „Ich komme mir wie eine kleine Königin vor!“ Sie beschreibt die Einwohner, die gleichzeitig auch ihre Angestellten sind, und lobt anfangs wie „gut abgerichtet“ die „Boys“ sind. Schnell werden die Machtstrukturen gegenüber ihren „dienstbaren Geistern“ deutlich, wenn sie zum Beispiel bestimmt, wie viel die Angestellten von ihrem Lohn ausgeben dürfen. Als die Dörfer der „Eingeborenen“ abgerissen werden sollen, beschweren sich die Stammesführer beim Deutschen Reich. In den Diskussionen der Kaufleute über Themen wie Enteignung von Land, „Mischehen“ und die Stellung der Einheimischen nimmt man immer die Perspektive der Kolonialherren und -herrinnen ein, erfährt eine klar rassistische Denkweise, die heute schmerzt. Dabei werden die Schrecken und Gewalttaten gegenüber den „Dienern“ im Hörspiel zwar genannt, aber nicht nachgespielt – der Schrecken der Schläge lässt sich nur erahnen.
Sprung ins Jahr 2015 in eine Deutschstunde für Geflüchtete. Martin ist aus Kamerun nach Deutschland geflüchtet, spricht sehr gut Deutsch und es wird schnell klar: Martin will sich in seiner neuen Heimat integrieren. Es wird thematisiert wie schwer dieser Prozess aber immer wieder ist: der viele Papierkram, die Wohnungs- und Arbeitssuche. Trotz abgeschlossener Ausbildung zum Statiker wird er nur als Praktikant eingestellt – aber auch erst nach 200 Bewerbungen. Er baut dann schließlich Bauzäune vor einem Museum auf, das afrikanische Raubkunst zeigt. Noch ironischer wird die Geschichte, als seine Firma ihn als Projektleitung in Kamerun einsetzen will, obwohl Martin gar nicht Deutschland verlassen möchte.
Als er wieder nach Kamerun zurückkehrt, werden Parallelen zwischen den beiden Teilen des Hörspiels gezogen: Martin sei der „gute Geist der Firma“, es wird von Enteignung gesprochen und schließlich diskutiert er mit seiner Familie über den Kolonialismus. Er beschwert sich, dass immer noch alle Probleme Kameruns auf den Einfluss der damaligen Kolonialherren zurückgeführt würden, obwohl das Land seit den 60er Jahren unabhängig ist. Das Hörspiel zeigt wie schwierig und auch verworren die Geschichte ist. Zudem kommt durch die Bezüge zwischen den Hälften des Hörspiels unweigerlich die Frage auf, wann man von Kolonialismus sprechen kann. Vielleicht auch schon, wenn eine deutsche Firma versucht die Strukturen in einem anderen Land zu ändern? Die Parallelen werden aufgezeigt. Letztendlich lässt einen das Hörspiel dann doch etwas ratlos zurück, wenn Martin fordert: „Lasst uns die Kolonialherren zurückholen!“
Während das Hörspiel noch läuft, beginnt auch schon die nächste Veranstaltung: die Lecture-Performance „Solar: A Meltdown“. Es handelt sich um eine Vorlesung, die aber gleichzeitig mit den Konventionen einer „lecture“ spielt und so aus dem normalerweise eher bildungsvermittelnden Prozess eine Performance macht.
Ho Rui An ist für die Performance extra aus Singapur angereist – dafür sind leider nur wenige Zuschauer gekommen. Er beginnt von seinem Besuch im Tropenmuseum in Amsterdam zu erzählen, wo Figuren unterschiedlicher Anthropologen ausgestellt sind – sie werden mit verschränkten Armen und schweißgebadet dargestellt. Eine typische Darstellungsweise, wie er findet, für die er unzählige Beispiele zeigt. Es beginnt eine kultur- und medienwissenschaftliche Ausführung durch verschiedene Spielfilme, die schweißgebadete weiße Männer in tropischen Ländern zeigen und ihren Kampf mit den Bedingungen dort. Ho Rui An analysiert an seinem Rednerpult wie Kolonialherren in den Filmen dargestellt werden – und zeigt damit zugleich auch die rassistischen Darstellungsformen der „Einheimischen“. Außerdem dreht er den üblichen Diskurs um: Er als Singapurer analysiert die Darstellungsform des weißen Mannes.
Von seinen Ausflügen über die Bedeutung von Schweiß kommt er auf Klimaanlagen, Fächer und das Bild der „Colonial Mistress“, also der Frau, die in den Kolonien ein Heim für ihre Männer schaffen sollte. Sie wird oft in Filmen gezeigt als eine Art Lehrerin, die Kultur zu den Einheimischen bringt und ihnen die Welt erklärt. Gezeigt wird dafür eine Szene aus „Anna und der König von Siam“ aus dem Jahr 1947.
Ho Rui An schafft es in seiner Performance eine unterhaltsame, aber gleichzeitig ausführliche Medienanalyse von kolonialen Darstellungsweisen in Filmen widerzugeben. Er nimmt damit aber auch generell solche Diskurse aufs Korn, indem er unter anderem eine winkende, solarbetriebene Figur der Queen in seine Analysen einbezieht.
Am letzten Tag des Translocal werden im Schauspiel noch weitere Perspektiven zu Postkolonialismus diskutiert. Dabei auch ein Gastspiel aus Nairobi: „Chombotrope“, ein Tanzgastspiel über kulturelle Aneignungen, sowie Workshops, Panels und Soundperformances.
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