So zumindest die schöne Utopie, die das Schauspiel Köln als Sonderveranstaltung inszeniert. „Das alles hier, jeder Halm und jeder Strauch, ist unser schönes Kalk!“, informiert ein Staatsangehöriger laut durchs Megafon, als die kleine Schar Besucher von der Dillenburgerstraße abweicht und eine der letzten grünen Brachen (ausgerechnet) im Industriegelände betritt. Der blonde junge Mann im blauen Arbeitskittel, der ihn als Inszenierung kennzeichnet, ergreift so überzeugend Partei für das traditionell geächtete Fleckchen Köln, das es richtig anrührt. Die meisten der Besucher verbindet persönliche Geschichte mit dem Stadtteil. „Das ist zum ersten Mal so.Bei allen früheren Terminen kam das Publikum aus anderen Stadtteilen“, weiß die Wegweiserin dieser sonderbaren Expedition.
Regisseurin Anna Horn ist selbst nur Vertretung für die Schauspielerin, die sonst mit den Gästen auf Tour geht. Auch alle anderen Schauspieler sind nur Vertretung, wiederholte allerdings, denn das originäre Vorhaben, echte Kalker zwischen 15 und 23 Jahren für diese Inszenierung zu gewinnen, scheiterte. Man sei in Vereinen und Jugendtreffs auf die Suche gegangen, doch viele junge Kalker arbeiteten schon Vollzeit, nicht selten schon mit 15, so die Erklärung. Auch die Einbezogenheit in ihre jeweiligen Cliquen sei zu groß, das Interesse, außerhalb aktiv zu werden, gering. Wer hätte das gedacht? Gelten die Bewohner der noch viel unbeliebteren Dortmunder Nordstadt nicht als weitaus abgeschotteter? Jörg Lujas Matthaei konnte rund 50 von ihnen für seine aufwändige Vor-Ort-Inszenierung „Crashtest“ gewinnen.
Die jungen Leute, die heute in Kalk immer wieder unvermittelt auftauchen – musizierend, mitten auf einer Verkehrsinsel, vom Vordach der ehemaligen KHD-Kantine rezitierend, in überschwänglicher Umarmung oder aus Jux gestapelt auf einem Briefkasten –, wurden aus der seit 2008 am Schauspiel Köln bestehenden Jugendtheatergruppe „Rheinische Rebellen“ rekrutiert. Sie vertreten die eigentlich Gemeinten, Befragten: gefragt, wie sie heißen, wo sie froh sind, was sie tun, wen sie mögen. Sie spielen sie, z.B. Franzi, die aus Bayern stammt, früher in einer Kapelle spielte, heute Alkoholikerin ist, oder Oliver, der sich darüber empört, dass man auf der anderen Rheinseite glaubt, in Kalk würden die Mülltonnen brennen. Manchmal weiß man nicht, ob es sich um eine Inszenierung handelt oder nicht. Alles könnte Theater sein: Das tätowierte Pärchen, das so lauthals diskutiert, der alte Mann, der auf offener Straße einen LKW-Reifen wechselt, neben ihm im Gras ein Haufen toter Garnelen.
Leider nicht zu hören: die Nationalhymne des utopischen Staates Kalk
Eine Verschnauf-, Pinkel- und Trinkpause steht an. Sie findet in der „Baustelle“ statt, einem neuen Veranstaltungsort in Kalk, keinem ganz gewöhnlichen. Gäste dürfen mit wilder Off-Kultur, Medienkunst und ausgefallenen Konzerten rechnen. Die Initiatorinnen sind echte Kalker Staatsangehörige, ausnahmsweise heute leider nicht vor Ort. Am Vorabend wurde zu intensiv gefeiert, heißt es. Die alte Werkstatt im Innenhof ist aber offen. Hier steht jetzt eine Bühne und auch eine Bar. Und es gibt ein kleines Museum, in dem allerhand Schrift- und Fundstücke ausgestellt sind, um das Staatstragende Kalks zu untermauern. Informiert und körperlich erquickt geht es weiter zum abschließenden Höhepunkt des theatralen Spaziergangs. Doch – o weh – ist der seit heute versperrt: Wer hoch ginge, so wurde es dem Schauspiel Köln am Vortag rechtsanwaltlich mitgeteilt, müsse mit der Polizei rechnen. (Eine Bürgerinitiative kämpft derzeit für den Erhalt des Bergs als Ausflugsziel. Die Stadt will aber einen Landeplatz für Rettungshubschrauber darauf errichten.)
Der sagenumwobene, besser gesagt heiß umkämpfte „Kalkberg“ sollte einen tollen Aus- und Rückblick auf die eben gegangenen Wege eröffnen. Nun muss das Bergfest an seinem Fuße unter der flankierenden Autobahnbrücke erfolgen. Alle zehn NachwuchsschauspielerInnen singen die selbst erfundene Nationalhymne des neuen Staates Kalk. Doch dann wird eröffnet, dass das nur Träumerei sei, eine Genehmigung des Antrags auf Unabhängigkeit nicht möglich. Kalk bleibt ein armer fremdbestimmter Stadtteil, dessen Bewohner en gros still im Hintergrund bleiben. Zum Trost wird trotzdem geklatscht. Dann bleibt es jedem Utopie-Touristen überlassen, seinen Weg alleine zurück zu finden.
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