Pankaj Mishra ist ein polarisierender Publizist. Laute Aufregung liest man derweil meist von seinen politischen Gegnern. Seine brennenden Anliegen indes trägt er mit einer entspannten Gelassenheit vor. Davon konnten sich auch die Besucher der Veranstaltung „Den Islam und den Westen hinter sich lassen“ im Filmforum des Museums Ludwig ein Bild machen. Im dortigen Kinosaal hielt er einen Vortrag im Rahmen des Pluriversale II Festivals, das von der Akademie der Künste der Welt vom 10. April bis zum 27. Juni 2015 in Köln veranstaltet wird.
In seiner etwa 70minütigen Rede, an die sich eine Diskussionsrunde mit dem Publikum anschloss, versuchte Pankaj Mishra deutlich zu machen, warum man das Gegensatzpaar „Ost und West“ endlich auflösen sollte. Denn dieses sei mit all seinen Attributen und Zuschreibungen ohnehin ein undifferenziertes Zerrbild, und zudem vor allem ein europäisch-westlich geführter Diskurs, der seine Ursprünge unter anderem in Ideen der Aufklärung und Romantik habe. Eine Zeit, in der kulturgeschichtliche Konzepte entstanden, die später gesellschaftliche Realitäten wurden: Liberalismus, Nationalismus, die Idee von Nationen an sich, der Sozialismus und natürlich nicht zuletzt der Kapitalismus.
Dabei vertritt Mishra als aktueller Vertreter postkolonialer Theorien nicht nur eine anti-essentialistische Haltung, die rechtkonservative Welt-Schreiber gerne als anti-europäisch missverstehen wollen, sondern fußt seine Ansichten auch auf die These, dass sich das Konzept des Nationalstaates in einer weltweiten Krise befindet. Der Nationalstaat und nationale Idee seien Exportgüter Europas, die nun nachhaltig die ganze Welt mit beeinflussten – und dabei Kriterien schüfen zur Betrachtung von Menschen und Gesellschaften.
Eine schwer zu leugnende These – vor allem, wenn man einmal auf die Geschichte der Nationen in Afrika blickt. Eine Geschichte voller Missverständnisse, was ethnische Zuschreibungen und nationale Grenzen (seitens der europäischen Kolonialisten) betrifft, die später für viele Konflikte verantwortlich sein sollten. Nach Afrika wurde die Idee von Demokratie und Nationalstaat mit viel Leid und Blutvergießen exportiert. Eine Ansicht, die Mishra aber nicht nur auf Afrika bezieht.
Der mit dem Leipziger-Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2014 ausgezeichnete Autor benutzte für seine dekonstruktivistischen Zwecke oftmals die Sprache der politischen Gegner, um zu verdeutlichen, um welche Haltungen es sich handelt, mit welchen Bildern und Misrepräsentationen sie arbeiten. Von „us vs them“ ist da die Rede, vom oft heraufbeschworenen „clash of civilizations“ à la Samuel Huntington, der genau den kulturellen Antagonismus beschreibt, den Mishra gerne aufgelöst sehen will. Ein kulturgeschichtlich und medial erzeugter Antagonismus sei dies, der durch den 11. September und zuletzt auch durch das Charlie Hebdo-Attentat immer wieder herangeführt wird, um die Welt letztlich in gut (gleich europäisch, humanistisch, christlich, zivilisiert, fortschrittlich etc.) und böse zu unterteilen (gleich nicht westlich, islamistisch, terroristisch, rückständig etc.).
Es sind wohl diese dekonstruktivistischen Momente in Mishras Ideen, die die Konservativen Deutschlands und Indiens gegen ihn aufbringen. So halten ihn national-konservative Hindus für einen Autor, der für pro-muslimische Europäer schreibt – deutsche rechtskonservative halten ihn für anti-europäisch. Mit bösem Humor vergleicht Mishra beispielsweise anti-modernistische Tendenzen aus dem ideengeschichtlichen Umfeld des Romantizismus und der Aufklärung mit den anti-westlichen Haltungen heutiger Jihadisten.
Zeitgleich behauptet Mishra: „In dieser sehr europäisierten Welt leben auch viele, vor allem junge, Muslime, und treffen in dieser so globalisierten Welt ihre tagtäglichen Entscheidungen“. Heißt auch: Die Gegensätze, die oft gesehen werden wollen, werden durch einen gemeinsam gelebten sozialen und politischen Alltag oftmals aufgehoben. Jedoch sieht Mishra diese Einheit nicht unbedingt positiv: „Der Kapitalismus und die Technologien haben die Menschen in einer Art negativer Einheit zusammengeworfen“, so Mishra.
„Es gab diesen erderschütternden Wandel, dass wir nun in einer zutiefst miteinander verbundenen Welt leben müssen“. Daraus leitet Mishra folgendes Postulat ab: Wir müssen uns als Europäer in der Rolle als Geschichtsschreiber und Kategorienverteiler selbst hinterfragen. Unsere Bilder vom „Anderen“ schaffen viel mehr „Fremde“ als Verständnis: Wir „ver-gleichen“ also nicht, wir „ver-andern“. Wenn diese Denkweise sich ändert, lernen wir auch vom Anderen über uns und umgekehrt. Sollten diese Lernprozesse nicht eintreten, dann sieht Mishra genau wie seine Gegner eine große Gefahr anschwellender Konflikte.
In der anschließenden Diskussionsrunde wollten viele Menschen aus dem Publikum scheinbar vor allem Zukunftsprognosen von Mishra hören, auf die er eine charmante Antwort hatte: „Nur ein entweder sehr weiser Mann oder ein Narr können mit Selbstbewusstsein und ohne Zweifel über die Zukunft sprechen“. Mishra hielt sich folglich von Aussichten in die Zukunft zurück – und verwies stattdessen noch einmal auf die Bedeutung eines umfassenden Geschichtsverständnisses.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Woyzeck im Karneval
„kah.na.v‘aw“ in der Akademie der Künste der Welt – Kunstwandel 11/23
Utopisch denken
Ausstellung „Sci-(no)-Fi“ im Academyspace – Kunst 10/19
Wir kopieren nicht zum Spaß
„Copy It!“ im Academyspace – Kunst 04/19
„Wie wird mit Erinnerungen umgegangen?“
Akademie-Leiterin Madhusree Dutta will archivieren und vernetzen – Interview 12/18
„Ich war tatsächlich ein wenig nervös“
Madhusree Dutta leitet seit April die Akademie der Künste der Welt – Interview 12/18
Mehr Schein als Sein?
Lesung und Gespräch zu „Köln kosmopolitisch“ – Literatur 12/18
Das Objekt der Begierde
„Perverse Decolonization – 1985“ im kjubh – Kunst 11/18
Unmenschliche Zeitzeugen
Die Wucherungen des Kolonialismus: „Floraphilia“ im Academyspace – Kunst 09/18
Kunst greifbar machen
Das Palais Temporär und die performativen Künste in Köln – Spezial 09/18
Gespenstische Mauerüberquerung
„Original Sin“: Susanne Sachsse & Xiu Xiu im Stadtgarten – Bühne 06/18
Sündhafte Gespenster
Susanne Sachsse & Xiu Xiu im Stadtgarten – das Besondere 06/18
Anhaltendes Missverständnis
Chancen der Akademie der Künste der Welt werden nicht genutzt – Kulturporträt 05/18
Alles Posaune
Das Vertigo Trombone Quartet in Neuss – Improvisierte Musik in NRW 05/25
Politiker allein im Wald
Die Filmstarts der Woche
Sackschwer
Zamus: Early Music Festival 2025 in Köln – Klassik am Rhein 05/25
Wohnen im Film
Die Reihe Filmgeschichten mit „Träumen von Räumen“ im Filmforum NRW – Filmreihe 05/25
Jetzt erst recht
Teil 1: Lokale Initiativen – Parents for Future in Köln
19 neue Standorte
KulturMonitoring in NRW wird ausgeweitet – Theater in NRW 05/25
„Ich ersetze keine Menschen – ich entlarve sie“
Ein Gespräch mit einer Künstlichen Arroganz über den Arbeitsmarkt – Glosse
Lässiger Spott
„Ophelia‘s Got Talent“ am Schauspiel Köln – Tanz in NRW 05/25
Großer Auftritt zum Finale
Der Pianist und Dirigent Lahav Shani in Dortmund – Klassik an der Ruhr 05/25
„Politik für das Gemeinwohl, nicht für Unternehmen“
Teil 1: Interview – Armutsforscher Christoph Butterwegge über die Umverteilung von Reichtum
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Feierabend heißt Feierabend
Neues Gesetz schützt Arbeiter vor ständiger Erreichbarkeit – Europa-Vorbild: Spanien
Gegen Genderklischees
Eine Operetten-Wiederentdeckung in Köln – Oper in NRW 05/25