András Schiff gastierte in Köln. Er hatte ganz persönlich beladene Stücke mitgebracht, ein Programm von rund 140 Minuten Länge, ein gewaltiges Pensum für ein Recital – so heißt ein Soloabend. Mehr als tausend Klavierfreunde saßen in der Kölner Philharmonie und freuten sich auf diesen Tastenheroen von altem Schlag, der noch nicht mal die Sechzig erreicht hat, aber als Inkarnation des korrekten Klassikstars gelten könnte – in seiner Heimat Ungarn tritt er aus politischen Gründen nicht mehr auf. Der Pianist hatte über ungerechte Mediengesetzte gemosert und wurde von Nationalisten beschimpft – vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, sich ab einem gewissen Alter bestimmte Dinge einfach nicht mehr bieten zu lassen: Folgendes geschah jetzt in Köln.
Schiff arbeitete just an einer ihm gewidmeten Komposition des angesagten Vielschreibers Jörg Widmann, ein abstraktes Werk, für Laienohren ein sehr harter Brocken. „Mit dunkler Glut“ sollte Schiff den ausgedehnten Mittelsatz angehen, und schon rumorte ein unruhiger Basslauf unter den Einschlägen der rechten Hand – als sich aus Reihe zehn im Publikum ein Handyklingeln als neues Motiv zum Klavierklang gesellte. Der Maestro an den Tasten brach nach einigen Sekunden ab, drehte sich zum Volk und zischte: „Das ist unverschämt!“ Gut dreißig Sekunden starrte er eiskalt auf die Zuhörer, die in ihren Sesseln stumm erstarrten. „Was passiert jetzt?“ dröhnte lautlos die ungestellte Frage hinter den kraus gezogenen Stirnen der erfahrenen Hörer. „Wieso hat der Empfang in diesem Funkloch und ich nie?“ schwebte als junger kontrapunktischer Gedanke durch den Saal.
Dann drehte Schiff zum Klavier ab, blätterte die Noten zurück und begann den Satz von vorn. Sekunden später fiel lautstark eine Saaltür ins Schloss. Der kollektiv schuldig gewordene und auf Grabesruhe eingeschärfte Saal zuckte zusammen, als sei das Fallbeil einer Guillotine herabgesaust. Schiff sprang von der Klavierbank auf und näherte sich dem Bühnenrand. „Man kann nicht mehr Konzerte machen“, äußerte er erregt und kopfschüttelnd, „wie Glenn Gould!“ Und er entschwand.
Glenn Gould, ein sehr abgedrehter Zeitgenosse, aber auch ein Musikgenie, hatte sich mit Anfang Dreißig bereits aus dem Konzertsaal zurückgezogen – für ihn passte das Verhältnis von Musik und großem Publikum prinzipiell nicht. Das war 1964, und da gab es noch nicht mal Handys.
Schiff ließ sich beruhigen. Er kehrte zurück und spielte den Abend zu Ende, nochmals den ganzen Widmann, dann Kurtágs Hommage an Schiffs Mutter, dann Schumann, dann Beethovens „Diabelli-Variationen“, nach drei Stunden noch eine Zugabe – das Publikum feierte ihn erleichtert.
Aber was hat dieser Abend, an dem mal einer aufbrüllte, an prinzipiellen Fragen aufgeworfen. Hören wir zu gut in den hervorragenden Sälen? Räuspern ein Meter, Magengrummeln drei Meter, verdecktes Husten zehn Meter, offener ungeschützter Brüllhusten dreißig Meter, Rückkoppelung am Hörgerät 50 Meter, Handy abhängig vom Klingelton: Geräusche ziehen Kreise verschiedener Durchmesser, der Hörer partizipiert in mehreren Schnittmengen. Sollte der Interpret Ohrschützer tragen? Oder die Hörer Maulstopfen? Handykontrollen an den Eingängen? Bei Handyklingeln Platzverweis? Ärztliche Zertifikate zur Konzerttauglichkeit? Oder alle etwas Rücksicht nehmen, Niveau wahren?
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