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Foto: Havin Al-Sindy

„Ich werde weiterhin als Migrantin gesehen“

11. Februar 2020

Karosh Taha über den Literaturbetrieb – Interview 02/20

Am 29. Februar endet die Bewerbungsfrist für das diesjährige Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln, mit dem Autoren in Nordrhein-Westfalen, die nicht älter als 35 Jahre sind, gefördert werden. In diesem Jahr beträgt die Fördersumme erstmals 12.000 Euro, außerdem steht den Stipendiaten für drei Monate das Gastatelier der Stadt zur Verfügung. Die Stipendiatin des Jahres 2019, Karosh Taha, beantwortete uns per E-Mail Fragen über schematische Wahrnehmung und Ausgrenzungsmechanismen im Literaturbetrieb, die Aufgaben von Literatur und Sprache und die Probleme von Stipendien und Förderungen.

choices: Frau Taha, zunächst eine poetologische Frage: Von welcher Bedeutung ist Brinkmann als Autor für Sie? Mir scheint, dass es mindestens in der poetischen Genauigkeit und Ehrlichkeit, im Fesselnlassen durch Momente innerer und äußerer Wahrnehmung ein gewisses Nahverhältnis zwischen ihren Texten besteht.

Karosh Taha: Ich hätte gerne die poetologische Verwandtschaft, die Sie sehen, nachvollziehen können, leider kenne ich die Arbeit von Brinkmann nicht.

In Ihren Texten schreiben Sie aus der Sicht junger, selbstbewusster Frauen über kurdische Communitys, mitgenommene Probleme der Eltern, an denen, wie an deren verhinderter Ankunft im ideellen Sinn die Kinder mitzutragen haben. Sie schreiben über Identitäten und Selbstfindung abseits von gesetzten Mustern. Ist das Teil einer oft beschworenen „Migrations-“, „Migranten-“, „Einwandererliteratur“ – Begriffe, die überaus schematisch sind?

Ja, schematisch trifft es gut. Lesen Sie sich mal die Rezensionen zu meinem Buch oder anderen Büchern durch, die der „Migrantenliteratur“ zugeordnet werden, immer wieder die gleiche, langweilige Leier von „Zwischen den Kulturen zerrissen“, „Identitätssuche“, „schwierige Ankunft“, „Integration“ – schlimmes Wort. Das Setting, die Figuren scheinen offenbar dem deutschen Literaturbetrieb immer noch so exotisch, dass sie es nicht schaffen, die eigentlichen Themen zu sehen. Es geht bei „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ nicht um Identität, sondern um Erinnerung, um Räume und Orte, um Machtstrukturen und Hierarchien, um das Erzählen. Ist Ihnen aufgefallen, dass nur biodeutsche Autorenkolleg+innen Generationsromane schreiben? Und immer nur junge Menschen. Die Literaturkritik operiert zu oft mit den gleichen Bausteinen.

Auch diese oft beschworene Ankunft will mir nicht wirklich einleuchten, wo und wie sollen Menschen ankommen, wenn sie – politisch gesprochen – nicht erwünscht sind. Grundsätzlich aber die Frage: Wie kommt man an? Wann hat man das „Ziel“ erreicht? Wer definiert das?

In einem Essay schreiben Sie über das gefängnisartige Hochhaus und das Viertel, in dem Ihr Debütroman größtenteils spielt: „Wir brauchen neue Zungen, die anders über diese Orte sprechen.“ Wie kann Literatur das leisten? Naiv gefragt: Warum sollte sie das überhaupt?

Das Hochhaus und das Viertel sind keine Gefängnisse, das wäre eine Verharmlosung des Gefängnisses. Das Hochhaus wird von der Erzählerin als ein Kontrollinstrument begriffen, weil sie sich überwacht fühlt und auch von ihrer Tante und anderen Hausbewohnerinnen beobachtet wird. Es ist wichtig, verschiedene Perspektiven auf einen Gegenstand zu haben, um Klischees und Vorurteile zu vermeiden. Literatur sollte es schaffen, mit einer anderen Sprache als der alltäglichen den Alltag zu beschreiben. Wenn sie das nicht schafft, dann verliert sie ihre Daseinsberechtigung.

Shida Bazyar bezeichnete Sanaa, Erzählerin des Debütromans, als „Heldin, wie sie der deutschen Gegenwartsliteratur bislang gefehlt hat.“ Wie kann das sein, nach mehreren Jahrzehnten deutschsprachiger Literatur und nun einem relativ neuen Interesse an „Neuer Heimatliteratur“, die sich mit migrantischen, postmigrantischen Erfahrungen aus verschiedenen Blickwinkeln auseinandersetzen? Zeichnet sich ein Umdenken in Vorstellungen von Zugehörigkeit ab?

Es gab kein Interesse an diesen Geschichten, vermute ich, oder wie ist das sonst zu begreifen? Es gibt immer noch zu wenig Interesse für solche Figuren wie Sanaa. Echtes Interesse, nicht das Interesse an Themen. Die Bücher werden zu oft als Themenfelder begriffen, über die man sich informiert haben muss, wenn man „mitreden“ will. Wenn Sie sich über das Thema „Integration“ informieren wollen, lesen Sie eine soziologische Abhandlung darüber, aber bitte keinen Roman. Sie schauen sich ja auch nicht den Film „Gravity“ an, wenn Sie etwas über die NASA wissen wollen.

Es gibt aber auch eine neue Generation von Lektor+innen und Agent+innen, die möglicherweise im Ausland gelebt haben, mit Menschen wie Sanaa zur Schule gegangen sind oder mit ihr studiert haben, und sie als Teil ihrer Realität betrachten.

Neben Aspekten der Anerkennung kommen in Stipendien, Preisen freilich auch immer pragmatische Aspekte zum Tragen. Hat Ihnen die Förderung das literarische Arbeiten in materieller Hinsicht erleichtert?

Ja! Aber dass ich das Brinkmann-Stipendium bekommen habe, bedeutet, dass viele andere leer ausgehen. Die prekäre Situation, in der sich viele Künstler+innen befinden, muss anders gelöst werden. Die finanzielle Abhängigkeit von Stipendien und Preisen tut der Literatur nicht gut, ich befürchte, sie könnte gefällig werden, wenn sie es nicht schon ist. Viele Preise und Stipendien setzen auch eine absurd willkürliche Altersgrenze von 35 Jahren.

Sind derlei Auszeichnungen hinreichend zur Auflösung von struktureller und ideeller Diskriminierung im Literaturbetrieb?

Nein, weil ich weiterhin als Migrantin gesehen werde und nicht als deutschsprachige Schriftstellerin. Als ich bei einer Lesung von Emine Sevgi Özdamar war und sie immer noch mit identitätspolitischen Fragen behelligt wurde, in dem Stadium ihrer Karriere, war das für mich sehr ernüchternd.

Infos zum Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium: www.stadt-koeln.de/.../

Interview: Tim Preuß

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