choices: Frau Tober, das Jahr 2012 wird immer häufiger als Jahr der Entscheidung bezeichnet. Warum?
Silke Tober: Bereits jetzt befindet sich der Euroraum vermutlich in einer Rezession, es gibt eine hohe und noch steigende Arbeitslosigkeit, die massiven Sparanstrengungen in den Krisenländern dämpfen die wirtschaftliche Aktivität zusätzlich. Hinzu kommt: Die hohen Renditeforderungen auf Staatsanleihen vieler Euroländer wie Irland, Portugal, Italien und Spanien sind mittelfristig nicht tragbar. Die Banken insbesondere dieser Länder sind negativ von dem Kursverfall der Staatsanleihen betroffen. In zahlreichen Ländern droht dazu eine Kreditklemme. Deshalb dürfte die Taktik des Durchwurschtelns bald ausgereizt sein.
Steht zur Lösung dieser Probleme nun zu viel oder zu wenig Geld zur Verfügung?
Man könnte meinen, es gäbe zu viel Geld, da die Liquidität im Bankensystem seit Beginn der internationalen Finanzkrise deutlich angestiegen ist. Tatsächlich bleibt diese Liquidität aber überwiegend im Bankensystem. Trotz der hohen Zentralbankliquidität nehmen die nachfragerelevante sogenannte Geldmenge M3 und die Kreditvergabe der Banken mit zuletzt 1,6% bzw. 1% nur mäßig zu. Aktuell hat der Euroraum mit einer Nachfrageschwäche zu tun, was mit den Sparanstrengungen der öffentlichen Haushalte und den eingetrübten wirtschaftlichen Aussichten zusammenhängt. Insofern kann man sagen, dass es zu wenig Geld gibt, und dass die Europäische Zentralbank bald noch stärker expansiv wird wirken müssen.
Derzeit ist wechselweise von der Finanzkrise, der Schuldenkrise, einer Bankenkrise und der Eurokrise sowieso die Rede. Alles nur Rhetorik oder Ausdruck unterschiedlicher Sichtweisen?
Dahinter verbergen sich tatsächlich unterschiedliche Interpretationen. Zunächst: Von einer Eurokrise kann man kaum sprechen. Der Wechselkurs des Euro liegt bei 1,30 US-Dollar und um knapp 10% über dem Durchschnitt seit Beginn der Währungsunion. Dass sein realer Außenwert gegenüber einigen Währungen um 2% unter dem längerfristigen Durchschnitt liegt, hängt vor allem an der gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die wiederum eine Folge der ausgeprägten Lohnzurückhaltung im Lande ist. Es gibt auch keine Schuldenkrise, sondern „nur“ eine Vertrauenskrise am Markt für Staatsanleihen. Ohne die vorangegangene internationale Finanzkrise hätte es sie allerdings so kaum gegeben. Eine Bankenkrise drohte im Zuge des Kursverfalls der Staatsanleihen mehrerer Euroländer, vor allem aber, weil in der Politik fälschlicherweise auf Sparen um jeden Preis gesetzt wurde. Insbesondere die unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen der EZB haben diese Gefahr zunächst gebannt.
Ist es wichtig, auch die private Verschuldung zu überwachen?
Ja, die europäische Wirtschaftspolitik muss auch die private Verschuldung im Blick haben. Eine steigende Auslandsverschuldung kann ebenso das Resultat einer überbordenden privaten wie einer überbordenden öffentlichen Verschuldung sein. Die griechischen Leistungsbilanzdefizite z. B. entstanden durch eine öffentliche wie auch eine private Verschuldung. Demgegenüber wiesen Irland und Spanien vor Beginn der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2007 (und davor) öffentliche Budgetüberschüsse auf und eine nur geringe Schuldenstandsquote in Höhe von 25% bzw. 36% des Bruttoinlandsproduktes. Zur Beurteilung von makroökonomischen Ungleichgewichten ist der Leistungsbilanzsaldo daher wesentlich aussagekräftiger als der öffentliche Budgetsaldo.
Gibt es wirklich eine „Disziplinierungsfunktion“ des Marktes?
Im Falle der Finanzmärkte ist das ein Mythos. Die Finanzmarktakteure haben über ein Jahrzehnt keinen Anstoß an der Entwicklung in den jetzigen Krisenländern genommen oder etwa ein Risiko diagnostiziert. Die Verunsicherung in Falle Griechenlands begann erst 2009 und wurde im Herbst 2010 durch die Politik verstärkt, die eine private Gläubigerhaftung ins Spiel brachte. Die Folge waren steigende Renditen. Statt zu disziplinieren folgten die kaum regulierten Finanzmärkte ihren sich dann selbst erfüllenden Prophezeiungen – von der Blasenbildung bis hin zum Teufelskreis aus hohen Renditen, ausgeprägten fiskalischen Sparanstrengungen und schwachem Wachstum.
Welche Perspektiven muss die Wirtschaftspolitik entwickeln, um die anstehenden Herausforderungen bewältigen zu können?
Die angesprochene Vertrauenskrise kann nur bewältigt werden, wenn sie erstens als solche erkannt und zweitens die erforderliche Konsolidierungsstrategie an eine Wachstumsstrategie gekoppelt wird. Die Regierungen müssen dazu umfassende Garantien geben, etwa in Form eines vom Sachverständigenrat geforderten Schuldentilgungspaktes. Auf dieser Grundlage kann dann die EZB verstärkt stabilisierend am Markt für Staatsanleihen eingreifen. Die Wachstumsstrategie könnte darin bestehen, dass der Konsolidierungskurs der Krisenländer zeitlich gestreckt wird und zugleich die Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen, allen voran Deutschland, ihre Binnennachfrage – begünstigt durch die expansive Geldpolitik – stärken. Sie würden damit nicht nur stabilisierend auf die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum beitragen, sondern infolge steigender Importe auch zur Überwindung der Leistungsbilanzungleichgewichte.
Wird die virtuelle Geldmenge in Zukunft weiter wachsen?
Die Liquiditätszufuhr an die Geschäftsbanken wird sich zurückbilden, sobald das Vertrauen in die Märkte zurückkehrt. Dazu ist wie angesprochen ein wirtschaftspolitischer Strategiewechsel erforderlich, der auch dem Wirtschaftswachstum eine bedeutende Rolle zumisst. Ob das passieren wird, ist offen. Aber so oder so dürfte 2012 ein „Jahr der Entscheidung“ sein.
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