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Punk-Theater: Das Hamburger Anarcho-Künstlerkollektiv „HGich.T“
Foto: Björn Jansen

Grenzen ausloten

30. Juni 2011

Ein Gespräch mit Matthias von Hartz, der zusammen mit Tom Stromberg das Festival „Impulse“ leitet - Premiere 07/11

Das Festival Impulse feiert seinen zwanzigsten Geburtstag. 1990 wurde es vom damaligen Leiter des Kultursekretariats NRW Dietmar N. Schmidt als Plattform der freien Szene gegründet. Anfangs belächelt und mit finanziellen Ausblutungsattacken drangsaliert, hat es sich gegen alle Widerstände durchgesetzt. Mehr noch. Wer die Liste der Teilnehmer seit der Gründung durchsieht, muss den Impulse-Machern und ihren Jurys einen untrüglichen Riecher für neue Trends attestieren, die dann vom Stadttheater als Bluttransfusion gierig aufgesogen wurden. Das gilt nicht zuletzt für das seit 2007 amtierende Duo Matthias von Hartz und Tom Stromberg, die die Internationalisierung des Festivals vorangetrieben haben. Erstmals seit Jahren finden die Impulse nun im Sommer statt.

choices: Herr von Hartz, inzwischen strömen Namen wie René Pollesch, Rimini Protokoll oder She She Pop das Flair von Tradition aus. Gibt es so etwas wie eine Klassizität der freien Szene?
Matthias von Hartz:
Es gibt eine der Theaterstruktur geschuldete Klassizität, die lautet: Gruppen bleiben in der freien Szene, weil das Stadttheater es nicht schafft, ihnen eine Heimat zu geben. Es gibt auch eine Klassizität im Umgang mit ästhetischen Mitteln, die etwas mit anderen Medien zu tun hat. Man verfügt über diese Mittel so sicher, dass man sich traut weiter zu gehen. She She Pop ist mit „Testament“ nach langem Feilen an der Arbeitsweise und Einflüssen anderer Künstler jetzt eine ganz neue Arbeit gelungen. Der Abend ist eine wunderbare Verbindung aus dem „König Lear“-Thema, der Frage nach der eigenen Existenz als Künstler, dem Überleben in diesem Theatersystem und den Erwartungen der Generationen aneinander. Die Schauspieler holen ihre eigenen Väter auf die Bühne und mit diesem dokumentarischen Moment treiben sie die Arbeit mit der eigenen Autobiographie weiter.

Die meisten Gruppen im Impulse-Programm überschreiten die Grenzen der Sparten völlig selbstverständlich. Inwieweit ist das Crossover ästhetischer Alltag?
Das Theater ist ein absterbendes Medium und es ist dringend nötig, die Grenzen auszuloten, um zu sehen, wie es weitergehen könnte. Die Gruppe Berlin besteht aus Dokumentarfilmern, die in ihrer Produktion „Tagfish“ mit dokumentarischem Material eine szenische Situation herstellen. HGich.T dagegen veranstaltet in „Endzeit 2“ einen wilden Punkabend. Die Mitglieder der Truppe kommen aus der Bildenden Kunst und sind im Internet als Band berühmt. Während der Show malen sie Bilder, die dann zusammen mit Kleidungsstücken und Windeln versteigert werden. Das ist der energetischste Abend, den ich in den letzten Jahren gesehen habe. Vor kurzem war ich auf der Biennale in Venedig. Im Belgischen Pavillon war Theater zu sehen, der spanische zeigte eine Aneinanderreihung von perfomativen Momenten. Die Durchlässigkeit von multimedialen Arbeiten von Theater Richtung Kunst ist offenbar viel größer als umgekehrt. Wenn das in die Institutionen schwappen würde, wäre dem Theater sehr geholfen.

Wenn es nur noch Crossover-Produktionen gibt, sollte man da das Festival nicht für alle Sparten öffnen? Wie schwierig ist es, eine programmatische Balance zu halten?
Wir versuchen, erst mal im Kerngebiet zu gucken. Dann entdeckt die Jury plötzlich Andros Zins-Brownes Cowboy-Abend „The Host“, den man als Tanz, aber auch als Variation über männliche Rollenklischees interpretieren kann. Oder die Produktion von Anna Mendelsohn, auf die ich über mein Interesse an Ökologie und Klimawandel gestoßen bin und die dann auch ästhetisch sehr interessant war. All das ist nicht Ergebnis eines Plans. „Impulse“ ist aber auch ein kulturpolitisches Instrument, mit dem man versucht, das Potential des Mediums abzuklopfen. Die angesprochenen Arbeiten berühren sehr unterschiedliche Grenzen dessen, was man sich unter Theater vorstellt. Zugleich besetzt man damit auch eine Position gegenüber dem Berliner Theatertreffen.

20 Jahre Impulse - wie wichtig war das Festival für die Entwicklung der freien Szene?

Matthias von Hartz
Foto: Markus Scholz
studierte Ökonomie an der London School of Economics und Regie in Hamburg. Neben seiner Regietätigkeit, u.a. auf Kampnagel Hamburg, am Schauspiel Leipzig oder Bayerischen Staatsschauspiel München, arbeitete er als Projektmanager einer Multimedia-Agentur und als freier Autor für verschiedene Zeitungen. Er entwickelte und realisierte Programmkonzepte für verschiedene Theater, wie z.B. die Reihe go create™ resistance im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, die er von 2002-2005 kuratierte. 2007 übernahm er die künstlerische Leitung des Theater Festivals Impulse (zusammen mit Tom Stromberg) und des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel.

Impulse war nicht nur für die Entwicklung der freien Szene, sondern des Theaters überhaupt interessant. Und die Impulse waren aber sehr wichtig für das Selbstverständnis der freien Szene und damit ist die nationale und internationale Koproduktionsszene gemeint, nicht die diversen Privattheater. Der Großteil der ästhetischen Entwicklungen im Theater der letzten 15 Jahre, ob Nicolas Stemann, René Pollesch oder Katie Mitchell, kommt aus der freien Szene. Impulse war dabei immer nur der Sichtbarmacher, der Ritterschlag oder die Plattform, die die mediale Aufmerksamkeit bringt. „Shouting bourbaki“, das 2002 bei Impulse gastierte, war beispielsweise der erste im Theatersystem ernst genommene Erfolg von Rimini Protokoll.

Hat sich an den prekären Produktionsbedingungen der freien Szene etwas geändert?
Es wird auf der Produktionsseite immer schlimmer. Das Geld wird knapper und alles, was frei ist, kann man leichter kürzen als die Institutionen mit ihren Häusern und Arbeitsverträgen. Andererseits hat sich die freie Szene zunehmend internationalisiert, das erhöht zwar die Budgets für die Künstler und schafft andere Produktionsmöglichkeiten, ist aber Ausdruck von weniger Geld. Wir haben in den ersten Jahren internationale Gäste eingeladen, das haben wir dieses Jahr gelassen. Institutet+Nya Rampen zum Beispiel kommen aus Skandinavien, leben in Berlin und produzieren mit Geld aus beiden Ländern. Die Gruppe Berlin wiederum arbeitet in Antwerpen, hat ihr Stück aber in Essen herausgebracht.

Wie wird die deutschsprachige Szene im Ausland wahrgenommen?
Für das Ausland ist das, was wir hier freie Szene nennen, der Normalzustand. Die Off-Produktionen sind für Gastspiele oder Kooperationen viel interessanter als teure Stadttheaterproduktionen. In diesem Jahr sind Kuratoren aus Südafrika, Kanada, Korea oder Tallinn vor Ort. Das Interesse an den Plätzen unseres Kuratorenprogramms ist so groß, dass wir einigen Interessenten absagen mussten. Das hat sich gewaltig verändert.

„Theater Festival Impulse 2011“ I 29.6.-10.7. I Gebäude 9, Hallmackenreuther, Halle Kalk, Schauspiel Köln und studiobühne I Weitere Termine in Bochum, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr I 0221 992 25 51 11

INTERVIEW: HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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