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Bei den „Hiob“-Proben
Foto: Laura Schleder

„Gott versperrt die Sicht auf die Welt“

23. Dezember 2014

Rafael Sanchez dramatisiert am Schauspiel Köln Joseph Roths Roman „Hiob“ – Premiere 01/15

Als Joseph Roth 1929 seinen Roman „Hiob“ vollendet, steht die Weimarer Republik bereits am Abgrund. Die Weltwirtschaftskrise und der Terror der Nationalsozialisten greifen die junge Demokratie in ihren Grundfesten an. Roths Roman, der bis heute einer seiner erfolgreichsten ist, bedeutet nach Jahren sozialkritischer Werke eine Wendung zu einerstilisiert-klassischen literarischen Einfachheit. Der„Roman eines einfachen Mannes“ schildert die Geschichte des Thoralehrers Mendel Singer und seiner Familie. Sie wohnen in einem Schtetl an der russischen Grenze. Mit seiner Frau Deborah hat Mendel vier Kinder, erfühlt sich aufgehoben in seinem Glauben, selbst als die Schicksalsschläge auf ihn niederprasseln. Sein jüngster Sohn Menuchim ist ein „Krüppel“, Jonas verdingt sich beim zaristischen Militär, Schemarjah wandert nach Amerika aus und die Tochter Mirjam geht mit einem Kosaken ins Bett. Da beschließt Mendel, ebenfalls nach Amerika auszuwandern, doch darüber zerbricht die Familie vollends. Menuchim musste in Russland zurückbleiben und Deborah stirbt bald nach der Ankunft. Als dann seine ältesten Söhne im Krieg umkommen und Mirjam wahnsinnig wird, verzweifelt Mendel an Gott. Doch als dann das Wunder geschieht und er Menuchim als weltbekannten Musiker in Amerika wiedertrifft, preist er prompt wieder seinen Gott. Rafael Sanchez bringt Roths Roman in einer Dramatisierung von Koen Tachelet am Schauspiel Köln auf die Bühne.

choices: Herr Sanchez, sind die Katastrophen, die über Mendel Singer hereinbrechen, also soziales Elend, Protest der Kinder, Krieg und Auswanderung, nicht eigentlich völlig normal?
Rafael Sanchez:
Es sind nicht nur normale Ereignisse, sie sind vor allem menschengemacht. Die Romandramatisierung von Koen Tachelet, die wir benutzen, beginnt mit der Szene, in der der Sohn Menuchim einen epileptischen Anfall bekommt und der Doktor ihn heilen will. Das Unglück könnte beseitigt werden, wäre damit keine Strafe Gottes. Mendel Singer verbietet das aufgrund seines Glaubens und so wird es zum selbst gemachten Problem. Dann geht die Tochter mit einem Kosaken ins Bett, mit der Auswanderung nach Amerika wird es noch katastrophaler. Alle diese Unglücksfälle, die Mendel auf Gott schiebt, hat er selbst mit zu verantworten.

Das Trommelfeuer des Unglücks wird für Mendel schließlich zum Anlass für seinen Glaubenszweifel. Als er dann in Amerika seinen Sohn Menuchim als erfolgreichen Künstler wiedertrifft, findet er wieder zu Gott zurück.

Rafael Sanchez
Foto: Laura Schleder
Rafael Sanchez wurde 1975 in Basel geboren. 2003 bis 2006 ist er Hausregisseur am Theater Basel, danach arbeitet er freiberuflich u.a. am Düsseldorfer Schauspielhaus, in Berlin, Zürich und Hannover. Von 2008/09 bis 2012/13 leitete er gemeinsam mit Barbara Weber das Theater am Neumarkt in Zürich. Seit der Spielzeit 2013/14 ist er Hausregisseur am Schauspiel Köln.

Ich lese Joseph Roths „Hiob“ nicht im Sinne eines Gottesbeweises, sondern andersherum: Mendel Singer macht einen Sprung in die aufgeklärte Welt. Sein Kampf besteht darin, sich von der alten traditionellen Welt und von Gott zu befreien. Ich lese den Schluss zwar auch als ein Wunder, aber nicht als ein von Gott gemachtes, sondern ein menschgemachtes Wunder. Roth lässt aber die andere Interpretation, dass Gott ihn doch noch empfängt, daneben bestehen. Am Schluss setzt Mendel zum ersten Mal seine Kippa ab, und echte Sonnenstrahlen treffen auf seinen Kopf.

Sie lassen also seine Rückwendung zu Gott am Ende weg?
Bei uns lautet sein letzter Satz: „Ich begrüße die Welt.“ Ich bin der Meinung, dass dieser Schluss von Roth so gewollt ist. Insofern lasse ich nichts weg und aktualisiere auch nicht. Für mich ist es eindeutig, dass Mendel Singer sich von seinem Glauben löst.

Das Glaubensfundament des Mendel Singer spielt für Sie also nur eine Rolle als etwas zu Überwindendes?
Es interessiert mich, das als eine Barriere zur Transzendenz zu zeigen. Dieses Gottesbild steht wie ein Riegel da und versperrt die Sicht auf die Welt. Ich glaube, Roth hat das so aufgebaut, dass man eben die Möglichkeit hat, es als religiöse Geschichte zu lesen, aber zugleich ist dem Text deren Demontage mit hineingeschrieben. Roth macht das bewusst. Er benutzt diese klischierten Bilder von der Religion oder diesen Traditionen nur, um sie als hohle Form zu zeigen, die einen nur behindert auf dem Weg des Fortschritts.

Aber war Roth nicht selbst ein sehr konservativer Mensch?
Seine Berichte aus Frankreich sind natürlich haarsträubend. Auch wie er mit seiner Frau umgegangen ist. Dann sein Alkoholismus. Doch dass man im Privatleben daneben liegt, heißt nicht, dass man die Zeichen der Zeit nicht gut lesen kann. Roth hatte eine große Draufsicht auf das Ganze. Der Kitsch der Geschichte war eine bewusste Entscheidung. Da ist ihm nicht einfach so ein Dreigroschenroman aus der Feder geflutscht, das zeigen dann auch spätere Romane wie zum Beispiel „Radetzkymarsch“.

Gibt es einen Art Stufenleiter der Erkenntnis, die Mendel Singer beschreitet?
Die Emanzipation beginnt, als er seiner Tochter erlaubt, mit einem Ungläubigen auszugehen. Das hätte er ein paar Monate zuvor im Schtetl in Zuchnow nicht zugelassen. Das geht Stufe für Stufe voran. Der große Kampf mit Gott findet dann statt, wenn er seine Thora-Sachen, sein Gebetssäckchen verbrennen will und sie dann doch wieder zurückholt. Das ist ein Hin und Her und sehr fein gezeichnet. Er wird nicht plötzlich zum Atheist.

Mendel Singers große Liebe gilt seinem kranken Sohn Menuchim, den er zurücklässt und der am Ende zu einem erfolgreichen Künstler wird.
Mendel liebt seinen Sohn über alles. Einmal sagt er zu ihm, die anderen Kinder brauche ich gar nicht, wir können alleine hier leben. Dann behauptet er, dem epileptischen Menuchim könne nur ein Wunder helfen, also nur Gott. Doch erst in dem Moment, in dem sich Mendel lossagt, entdeckt er, was ohne sein Zutun gewachsen ist. In dem Wunder des erfolgreichen Menuchim hatte Mendel nicht seine Finger drin, daran konnte er nichts versauen und verderben. Das, was mich am Ende rettet, ist das, wozu ich nichts beigetragen habe. Dieser Moment der Erkenntnis interessiert mich.

Was bedeutet es für Sie, dass Roth aus Menuchim eine Künstlerfigur gemacht hat?
Ich bin nicht der Meinung, wenn man Gott abschafft, dass der Mensch alles selbst im Griff hat. Aber die kulturellen Errungenschaften, dass könnte als Ersatz dienen für den Gottesdienst. Dass man kulturell in der Lage ist, einen Rahmen zu schaffen, in dem man diesen verdammten Gott nicht mehr braucht. Dass man in der Lage ist, die Welt vom Standpunkt anderer Religionen oder Ethnien zu betrachten, und lernt, diese zu respektieren. Das hat insofern auch einen aktuellen Bezug, weil es etwas mit Freiheit zu tun hat.

Spielt es eine Rolle, dass Mendel Singers Prozess der Erkenntnis ausgerechnet in Amerika stattfindet?
Roth haut damit beide Systeme in die Pfanne. Er lässt den SohnSchemarjah, der als erster der Familie nach Amerika auswandert, zum Geschäftsmann wird und den Kapitalismus zu seiner neuen Religion erklärt, den Tod finden. Dem System steht Roth also genauso kritisch gegenüber wie dem alten Glaubenssystem im Schtetl in Zuchnow. Der dritte Weg ist der kulturelle Weg, der von Menuchim verkörpert wird. Das ist ein sehr schönes Beispiel für menschlichen Fortschritt.

„Hiob“ | R:Rafael Sanchez | Sa. 10.1.(P), Mi 14.1., Sa 17.1., Fr 23.1., Do 29.1. 19.30 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 282 40

INTERVIEW: HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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